: ÖPNV: Geldsegen statt Pleite
■ Nahverkehrs-Reform beschert Hamburg einen erheblichen Zugewinn an Bundeszuschüssen und Gestaltungsmöglichkeiten Von Florian Marten
Rosige Aussichten: Wenn am 1. Januar 1996 die Regionalisierung des Öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) Wirklichkeit wird, wobei erstmals auch die Zuständigkeit für den Schienennahverkehr (SPNV) auf die Bundesländer übergeht, verfügt Hamburg über soviel Geld für seinen Nahverkehr wie niemals zuvor. In der Kasse könnten, so schätzen Experten, gut 300 Millionen Mark pro Jahr klingeln – gut 150 Millionen dank höherer Bundeszuschüsse und einer billigeren S-Bahn, bis zu 100 Millionen Mark durch höhere Beiträge des Umlandes und bis zu 100 Millionen Mark durch Sanierung der verkrusteten Hamburger Hochbahn AG. Zum Vergleich: Hamburgs aktueller Anteil am HVV-Defizit beträgt zur Zeit 380 Millionen Mark pro Jahr.
Hauptgrund des fröhlichen Geldsegens sind die erfolgreichen Verhandlungen der Bundesländer im Herbst 1993, als sie für ihre Zustimmung zur Bahnreform vom Bund gegen Theo Waigels erbitterten Widerstand erhebliche Zugeständnisse erpreßten. Ergebnis des überaus komplizierten Deals: Die Bundesländer erhalten höhere Bundeszuschüsse für den Stadtverkehr (sogenannte GVFG-Mittel) und darüber hinaus ingesamt 8,7 Milliarden Mark für den SPNV, der bislang aber lediglich 7,9 Milliarden Mark kostet. Der rheinland-pfälzische Finanzstaatssekretär Thilo Sarrazin, als ehemaliger Bahn-Chef-Abrechner im Bundesfinanzminsterium ein Insider ersten Ranges, freut sich denn auch, daß dank Regionalisierung „die Mittel des Bundes für den ÖPNV/SPNV beachtlich zunehmen“, was Chancen für „beachtliche ÖPNV-Verbesserungen“ biete.
Damit nicht genug: Den Ländern gelang eine „Dynamisierung“ der Bundeszuschüsse, die ab 1998 im Rhythmus der Mehrwertsteuereinnahmen steigen, also deutlich schneller als die Inflationsrate. Klaus Nötzold, Chef des DB-Nahverkehrs in Schleswig-Holstein, freut sich noch aus einem anderen Grund: Die Bundeszuschüsse deckten die alte „unwirtschaftlichen Betriebsweise“ ab: „Wenn wir jetzt besser arbeiten, dann muß für das gleiche Geld mehr SPNV herauskommen.“
Thilo Sarrazin legt noch eins drauf: Die Bundesbahn, so Sarrazin kürzlich auf einer Fachtagung zu den „Chancen der Regionalisierung“, habe bislang ihren Nahverkehr durch betriebswirtschaftlich unzulässige Verfahren zu teuer kalkuliert: „Auf diese Weise wurde und wird z.B. der gesamte Fernverkehr reich gerechnet“, während die Nahverkehrsdefizite unzulässig hoch seien. Sarrazin spricht von einem „Überhöhungsfaktor von 30 bis 40 Prozent“, ein Satz, der im Ballungsraum Hamburg mit seinen einträglichen Verkehrsströmen eher noch höher liegen dürfte. Kurz: Wenn Hamburg ab 1996 den SPNV bei Bundesbahn oder konkurrierenden Privatbahnen frei einkauft, kann die Stadt – professionelle Verhandlungstaktik vorausgesetzt – laut Sarrazin, „die gleiche Menge an SPNV-Leistung für wesentlich weniger Geld bestellen“.
Journalisten, die dieser Tage den Hamburg Senat befragen, erhalten freilich die gegenteilige Auskunft. Da warnt Verkehrssenator Eugen Wagner vor ungeheuren „Risiken“, und Henning Voscherau, der als einziger Landeschef gegen die Bahnreform votierte, jammert, wieder einmal habe der Bund Lasten „auf die Bundesländer abgeschoben“. Das Klagen der Hamburger hat durchaus reale Hintergründe: Wagners Emissäre, die gegenwärtig mit den Nachbarländern um ein zukünftiges HVV-Konzept feilschen, wollen das Umland, welches sich bislang kaum am HVV-Defizit beteiligt, kräftig zur Kasse bitten. Nach taz-Informationen will der Senat 100 Millionen Mark jährlich erhalten, eine Summe, die Schleswig-Holsteins Verkehrsminister Peer Steinbrück schlicht für utopisch hält.
Die taktischen Spielchen von Voscherau & Co sind nicht ganz ohne Risiko: Nicht nur im Umland, das über Hamburgs Konzeptlosigkeit und Feilscherei immer lauter murrt, wachsen die Zweifel, ob es noch rechtzeitig gelingt, bis zum 1.1.96 ein schlüssiges Gesamtkonzept auf die Beine zu stellen.
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