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Eine Idee mit Zukunft?

■ Ein erster Fall von „Pflegetourismus“: Eine Bonner Familie läßt die Großmutter „auf Rentenbasis“ in Polen pflegen. Ihr geht's gut

Ihre vermutlich letzte Reise unternahm Annie Kristian* im vergangenen Jahr, nach Polen. Die Angehörigen hatten beschlossen, die 83jährige Rentnerin in einer polnischen Pflegefamilie einzuquartieren. Seitdem wohnt Annie Kristian mitsamt ihrer schwarzlackierten Schrankwand aus dem ehemaligen Wohnzimmer, einem Couchtisch und allerlei Erinnerungskleinkram in einem kleinen Dorf nahe Gorzow, knapp zwei Autostunden von Berlin entfernt. Geht es nach dem Willen der Verwandten, wird Frau Kristian nicht mehr in ihre westdeutsche Heimat zurückkehren.

Den Angehörigen war die alte Dame zunehmend zur Last gefallen. Ihre geistige Verwirrung, eine Folge der Alzheimer-Krankheit, erfordert eine Rund-um-die-Uhr- Betreuung, die in der Familie niemand übernehmen wollte. Einen Platz im Altersheim suchten sie erst gar nicht. Die monatlichen Kosten von 5.000 Mark überstiegen die schmale Rente von Frau Kristian um ein Vielfaches. Und zuzahlen wollte auch niemand. Deshalb waren alle froh, als sich Bekannte aus Polen bereit erklärten, die Großmutter „auf Rentenbasis“ zu pflegen.

„Es war kein Abschieben“, sagt die 48jährige Tochter Susanne Jörgens*. Ein schlechtes Gewissen plage sie nicht. „Es ist nichts Schlechtes daran, seine Mutter nicht bis zum Tode zu pflegen“, meint die Künstlerin, die in ihrem Haus in Rheinbach bei Bonn arbeitet. Fünfmal war sie im vergangenen Jahr zu Besuch in Polen. Ihrer Mutter gehe es dort gut, meint sie, „besser als in jedem Altersheim“.

Tatsächlich fühlt sich Frau Kristian in ihrem neuen Zuhause offensichtlich wohl. Mit Wollstrickjacke und dicken Puschen an den Füßchen sitzt sie zufrieden auf der Couch in der guten Stube der polnischen Pflegefamilie. Hat sie Heimweh nach zu Hause? Sie antwortet nicht. Statt dessen zeigt sie lächelnd auf die Katze, die angelockt von Essensdüften zur Mittagszeit in die Küche huscht. Es riecht nach Sauerkraut und Speck. „Annie ist mein viertes Kind“, meint Hausfrau Barbara Szmiatek, die sich seit einem Jahr neben ihren drei eigenen Kindern um die neue „Oma“ kümmert. „Ich muß sie anziehen und füttern. Und auch die Windeln wechseln.“ Die 32jährige spricht gebrochen deutsch. Ihre Sprachkenntnisse stammen aus den drei Monaten, die sie einst in Westdeutschland jobbte. Damals lernte sie auch Annie Kristian kennen, deren schwerkranken Ehemann sie bis zum Tod pflegte. Ihre Kinder mußte sie während dieser Zeit in Polen lassen.

Pflege-Oma Kristian ist mittlerweile zur Haupteinnahmequelle der Familie Szmiatek avanciert. Als Gegenleistung für den Familienanschluß tritt Annie Kristian ihre gesamte Rente in Höhe von 800 Mark an die Familie ab. Für polnische Verhältnisse ein kleines Vermögen, vergleichbar mit der Gehaltsstufe eines Geschäftsführers. Barbara Szmiatek ist froh, daß sie die Altenpflege „in Heimarbeit“ erledigen kann – auch wenn es mit der neuen „Oma“ in der Wohnung eng wurde. Zwei Zimmer hat Frau Kristian bekommen. Für die polnische Familie bleiben nur noch die Küche und das Wohnzimmer.

Hier spielt sich das Leben auf engstem Raum ab. Mittendrin sitzt die alte Dame auf ihrem Lieblingsplatz, der Couch. Zu ihren Füßen toben die Kinder. Fast täglich kommt die Nachbarin („diese Piesepampel“, flüstert Frau Kristian) auf einen Plausch vorbei. Trotz der Enge findet sich des nachts für alle ein Bett. Die Kinder schlafen im Zimmer der bereits akzeptierten Großmutter.

In dem kleinen Dorf wären auch andere Familien daran interessiert, einen deutschen Pflegling aufzunehmen. Eine ältere Frau, die auf einer Busfahrt zufällig von Frau Kristians Exil erfährt, entschließt sich spontan, eine Pflegestation in ihrer Dreizimmerwohnung einzurichten. Deutsch spreche sie fließend, betont die Rentnerin .

Hilfsbedürftige, die in Polen betreut werden, haben allerdings „keinen Anspruch auf entsprechende Leistungen aus der Pflegeversicherung“, erklärt Jörg Trinogga, Sprecher der AOK Brandenburg. Denn zwischen Deutschland und Polen gibt es keine entsprechenden Abkommen. Trinoggga sind bisher auch keine weiteren Fälle von „Pflegetourismus“ bekannt. „Vorstellbar ist aber schon, daß solche Fälle in Zukunft vermehrt auftreten.“

Noch reicht bei Annie Kristian die Rente aus, um ihre Pflege zu bezahlen. Neuerdings will die polnische Ersatzfamilie aber einen finanziellen Ausgleich für die gestiegenen Lebenshaltungskosten, zweihundert Mark mehr im Monat. Die Tochter in Deutschland hält das Ansinnen für unverschämt: „Die sind von westlicher Raffgier erfaßt.“ Marion Wigand

*Namen geändert

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