Weihnachtsmänner, Weihnachtsfrauen (5)
: Indianerverhältnis

■ Heute: Heiligabend bei Annelie Keil

Nichts. Keine Erinnerung. Wo bei den meisten Zeitgenossen mit dem Stichwort „Heiligabend in der Kindheit“ Dämme einzureißen sind, ist bei der Hochschullehrerin Annelie Keil ein schwarzes Loch zu besichtigen. Ihre ersten sechs Lebensjahre im Waisenhaus – keine Weihnachtserinnerung. Drei Jahre mit der Mutter in russischer Gefangenschaft – ohne Heiligabend. Als Flüchtlinge in Westfalen – Mutter war eine überzeugte Atheistin und Sozialistin und lebte von der Sozialhilfe: „Der Schnickschnack kommt uns nicht ins Haus!“ Endlich frei und Studentin – da schafften die Bürgerkinder gerade das ganze kapitalistische Blendwerk ab.

Die Sehnsucht nach Lichterglanz unterm Baum aber war immer dagewesen. Annelie Keil erinnert sich, wie sie Heiligabend durch die Straßen von Bad Oeynhausen tigerte und alle anderen beneidete. Irgendwann als Studentin nahm sie sich ihr erstes Weihnachtsfest heraus. Seitdem kann sie sich ohne die notorischen biographischen Bürden der meisten Zeitgenossen jedes Jahr ihr Fest zurechtzulegen. Immer neu.

Letztes Jahr hat sie Heiligabend mit Freunden in ihrem Haus verbracht, zusammen mit einem krebskranken Kollegen, dessen letztes Weihnachten es war. „Schön und schwierig,“ sagt sie. Kerzen, Baum, Tee mit Rum, viel Lesen, gaaanz langes Geschenkeauspacken, mitternächtlicher Spaziergang. Dieses Jahr wird sie bei jüdischen Freunden in San Francisco überhaupt nichts feiern. Manches Jahr hat sie in einer Herz-Kreislauf-Klinik in Bayern Heiligabend ein Hopi-Ritual durchgeführt: Die Patienten konnten ihre Wünsche aufschreiben und in Rauch aufgehen lassen.

Zu Weihnachten hat Annelie Keil einerseits (und erklärtermaßen) ein ganz naives Verhältnis. Es soll bürgerlich zugehen mit Rotkraut und Falschem Hasen, selbstgebackenen Plätzchen und vielen Geschenken (“Ich könnte drei Meter lange Wuschzettel schreiben“). Andererseit hat sie sich bei Weihnachten etwas gedacht. Sie vernimmt Heiligabend eine „Armutsbotschaft“ (Rotkraut!), liest die Weihnachtsgeschichte als Flüchtlingsgeschichte von Obdachlosen, Heimatlosen. Dann kann sie Sätze sagen wie: „Es gibt immer einen vor deiner Tür, den du aufnehmen kannst,“ und muß gleichzeitig über sich lachen: „Typisch Sozialpädagogin!“ Im Kopf geht es Heiligabend also eher unbürgerlich zu: „Mein sozialistisches Herz lebt von der Liebe, einer Liebe, die sich nicht auf bürgerliche Intimität bezieht – in einem Stall gibt sie dem Fremden Heimat!“

Annelie Keil war mal sehr fromm. Bis 13 etwa. Christus hat sie aber auch später interessiert, als sie (schon vor der Konfirmation) Marx las. Das Interesse war „eher sozial“. Diesen Christus aber wollte sie bei der Konfirmation, als sie längst ungläubig geworden war, auf keinen Fall verraten und spuckte die Oplate nach dem Ritus aus. Früh trat sie aus der Kirche aus, konnte aber ohne die traditionellen Rituale – etwa bei Beerdigungen – auch nicht auskommen. Seitdem entwickelt sie ziemlich unkonventionell eigene persönliche Rituale, bedient sich auch bei den Katholiken (Christmette). „Zu den Religionen habe ich ein Indianerverhältnis: Je mehr das Göttliche ausdrücken, umso schöner!“

Dieses Jahr gibt es nur ein ganz kleines Weihnachtsritual. Vielleicht so gegen vier in der Nacht wird sie am Pazifik spazierengehen, eine Kerze in der Hand, und den Morgenstern suchen. „Ich hoffe nur, daß ich dann keine spirituelle Rotkrautkrise habe.“ BuS