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Das verhaßte Vergnügen

Die böse Sexualität bei George Grosz: ein lösbares Rätsel. Die morgen öffnende Berliner Retro hält sich bedeckt.  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Von allen Zeugnissen zur Weimarer Republik, die in meinem Geschichtsbuch zu sehen waren: George Grosz' „Stützen der Gesellschaft“ ist als einziges bis in die Details in Erinnerung geblieben. Wenn es jemandem gelungen ist, eine Allegorie zu finden des vertrackt halböffentlichen Raums der Konspiration, des unsichtbaren Schulterschlusses jener Ungeheuer, die aus den ideologischen und lebenspraktischen Trümmern des Ersten Weltkriegs hervorgegangen sind – es ist Grosz. Diesen Grosz hat das kulturelle Establishment der Bundesrepublik gefeiert; seit Mitte der siebziger Jahre war sein Haß nicht mehr gefürchtet, sein Status als Zeichner und Maler nahezu unanfechtbar.

Dabei hat sich eine Legende gebildet. Der Maler und Zeichner, Collagist und Karikaturist habe sich in den Anfängen der Weimarer Republik wacker geschlagen und sei dann – spätestens im Exil – ein wenig kompromißlerisch geworden. Einst Kommunist, habe er später nicht nur seine tadellose Haltung eingebüßt, sondern ebenfalls seine bissige Ikonographie.

Daß sein Alterswerk weniger Kraft hat, eine bisweilen belanglose Brillanz aufweist, sein stärkstes Sujet weitgehend eingebüßt hat: den Gegner – ist eine Sache. Eine andere ist, wenn suggeriert wird, der Künstler habe moralisch an Statur verloren. Auf äußerst geschickte Weise hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung sich dieser Suggestion erneut bedient, als im letzten Winter bei der Galerie Nierendorf drastische (von Grosz nicht betitelte und nicht signierte) Sexszenen ausgestellt wurden, die der Inhaber der Galerie, Florian Karsch, auf ungefähr 1940 datiert. Vom Spätwerk heißt es in diesem FAZ-Artikel der Sektion „Kunstmarkt“ – zunächst –, daß es „mehr Qualitäten hat, als gemeinhin noch zugegeben (...) Aber einmal eben noch hat der Bock in ihm gemeckert und ihn einige Scheußlichkeiten hervorbringen lassen, denen gerade ihr neuer Naturalismus so penetrant schlecht bekommt.“ Die Unterstellung des Moralverlusts durch Konkretion wird verschärft durch die Prophezeiung: An diesen Bildern „werden sich womöglich gerade die Spießer delektieren, die Grosz einst so unübertrefflich karikiert hat“. Die Variante hatte noch gefehlt: Grosz als Pornograph, glühend verehrt von rechtsradikalen Maklern und Polizisten. Von denen Autor Anton Thormüller weiß, daß sie nunmehr „glatt gestylte Typen sind“.

Was mich an diesem Set-up (seit zwanzig Jahren) wundert, ist, daß George Grosz' erotische Imagination im Kontext bekannter und viel gezeigter Bilder als selbstevident hingenommen wird. Bei den wichtigen Gemälden spielt das keine Rolle: in „Stützen der Gesellschaft“ und „Sonnenfinsternis“ kommen nur Männer vor. Aber viele seiner berühmten Lithographien und Aquarelle sind bevölkert von lüsternen Männern und Frauen, deren Begierden durch den Kotzenden in der Ecke oder den sanft Schlummernden mit offenem Hosenstall als einwandfrei ekelhaft zu Protokoll gebracht werden. Je häßlicher die Frauen gezeichnet sind, desto häßlicher sind die Männer, die nach diesen Frauen gieren. Die Konfiguration, läßt Grosz durchblicken, ist immer zynisch: Von seiten der Frauen, die im Spießermilieu als Huren prosperieren, und von seiten der Männer, die sich eingerichtet haben in zwei Halbwelten – dieser der käuflichen, jener der ehrenhaften Sexualität. Die Hure Babylon, der Moloch der Metropolis: Grosz hält sich, so will es scheinen, an den metaphorischen Abgesang auf die Moderne, der sie seit ihren Anfängen begleitet hat.

Wäre sein Werk identisch mit dem ideologischen Subtext, der ihm inzwischen routinemäßig unterstellt wird, hätte Grosz ein Lebensreformer sein müssen, bestrickt vom besseren Leben in Nacktkolonien ohne Rauchen und Trinken, eifrig den Medizinball rollend. Der Körper, von Gesellschaftspartikeln entblößt, unterwegs zu seiner Transzendierung, kollektiv der Geschichte der Scham entrissen.

Im Gegenteil, sein erotisches Imperium ist durchwirkt vom dunklen Zwirn des 19. Jahrhunderts, dessen Damenmoden er seine Fetische entlehnt. 1932, das erste Mal in Amerika, schreibt er an seine Frau Eva Grosz, mit der er zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre verheiratet ist: „Ich liebe gerade Deine sehr ausgesprochenen sexuellen Merkmale. Deine Brüste mit den großen Höfen – Deine große saftige stutige Votze – oh, mir kommt es fast, wenn ich sie mir vorstelle, wie sich die rosigen votzigen Lippen aus dem braunen Gebüsch hervordrängen. (...) Du hast für mich etwas von jener obszönen Geilheit der [18]80er Jahre, oft sehe ich Dich so – diese Üppigkeiten betont durch Einschnürungen – kurze Spitzenhöschen, die wie Schaum Deinen Popo garnieren und hervorheben.“ Grosz vermischt das verhaßte Vergnügen der herrschenden Klasse mit seinem und stattet es aus mit den Insignien, die ihm lieb und teuer sind.

Eine Hochzeitscollage von 1920 zeigt Grosz als fleischlose Menschmaschine neben einem frivolen, rotwangigen Fräulein, deren unzweideutig kunstvoll drapierte Unterwäsche ihre nackte Brust und ihr Schamhaar offenlegt. Die pelztragende Hure auf dem bösartigen Aquarell-Blatt „Schönheit, dich will ich preisen“ ist im Prinzip dieselbe Figur, auch wenn ihr Gesicht ins Schweinshafte verwandelt ist. Beide Arbeiten datieren aus dem gleichen Jahr, aber auch in den kommenden Jahrzehnten werden die Frauen in Zeichnungen, Aquarellen und Gemälden mit Evas Üppigkeit ausgestattet, entblößt durch Grosz' surrealistisch inspirierten Blick.

George Grosz' Werk ist nicht zu trennen von dieser Ehe, dieser Geschichte von Maler und Modell. Es gibt Aquarelle aus den zwanziger Jahren, die Eva im bonbonfarbenen Genre der erotischen Postkarten zeigt, aber auch Evas Schwester Lotte Schmalhausen, die ebenfalls zu den Modellen von Grosz gehörte, aber von ihm dargestellt wird wie eine Geliebte.

Es gibt also bereits in den zwanziger Jahren neben den satirischen Zeichnungen und allegorischen Haßgemälden längst auch den Versuch, den Spuren der eigenen Begierde nachzugehen, die Grenzen der Darstellbarkeit zu definieren. Warum hätte Grosz das Projekt in den Dünen von Cape Cod nicht weiter verfolgen sollen? Dort, in den ersten Jahren des Exils, konjugiert er die Geschichte vom Maler als Pornographen. Fast immer ist auch die Staffelei im Bild, und auf mehreren der Bilder- im-Bild sieht man Eva, ausgestattet mit einem gewaltigen Phallus, als Zwitterfigur, während Maler und Modell im richtigen Leben (vor der Staffelei) miteinander verschmelzen. Etliche der Malereien auf Papier, mit einem Stich ins Bräunliche, vereinen eine Fülle von Einzelstudien, die den eher artifiziellen Orgiencharakter forcieren. Grosz' Drastik aus den Lasterhöhlen der Weimarer Zeit hat voll durchgeschlagen, aber die Begierde ist nun nicht mehr Ausdruck einer Verfügungsgewalt, sondern eine (im Sinne der Produktivität) etwas bedenkliche, wenn auch sehr erholsame, Alternative zur selbstgestellten Aufgabe: ein Bild zu malen.

Eigenartig, daß die Neue Nationalgalerie in Berlin – morgen eröffnet sie eine gigantische Retrospektive zu Grosz – die Themenschiene gar nicht erkannt hat. Daß George Grosz im Berlin der zwanziger Jahre in einer vorzüglich aquarellierten Szene seine Ehefrau und Schwägerin zum Lesbenpaar beim Cunnilingus verkitscht hat, wird den Besuchern vorenthalten. Von den späteren, knapp fünfzig Szenen aus Amerika werden fünf gezeigt, wobei die Auswahl allerdings die Persiflage des Maler&Modell-Themas kaum nur raten läßt. Auf allen fünf Bildern sind riesige Schwänze zu sehen – Grosz wirkt phallusbesessen, während die wirklich drastischen Darstellungen seiner „süß-schweinischen Fickstute“ (Brief an Eva) in der Galerie Nierendorf bleiben mußten; wo Grosz sie vor 35 Jahren gelassen hatte mit der Auflage, sie zu „verwahren, bis sie auf größeres Verständnis treffen würden“ (Florian Karsch). Jetzt darf sie jeder sehen, der danach fragt. Die Nationalgalerie hat sich mit diesen Bildern „leidenschaftslos“, wie der Chef der Grosz-Schau, Peter- Klaus Schuster, sagt, befaßt, und sich dennoch unfehlbar im Trend bewegt: Pralle Penisse und Ejakulationen sind inzwischen politisch korrekt – tropfende Mösen bleiben dann irgendwie doch tabu.

Wirklich verblüffend aber ist das Kapitel im Katalog, dem die fünf nun gezeigten Sexbilder als Reproduktionen nachgestellt sind. Der Text von Kathrin Hoffmann- Curtius heißt „Erotik im Blick des George Grosz“. Auf der zweiten Seite erklärt die Autorin überraschend, sie wolle sich nun auf eine Federzeichnung (Spielhölle“, um 1918) „konzentrieren“. Das tut sie dann auch, während alle relevanten Aspekte der Groszschen Verstrickung ausgespart bleiben, von der Ehe und ihren teils bizarren Lüsten nicht die Rede ist.

Daß sie nicht die richtige Autorin für dieses Thema ist, hätte die Katalogredaktion wissen können. Schon bei ihrer Analyse des grotesken, puppenhaften Gemäldes „John, der Frauenmörder“ war Hoffmann-Curtius nicht weiter gekommen, als durch Grosz „strukturelle Gewalt künstlerischer Produktion offengelegt“ zu sehen. Es werden krude Analogien gezogen zwischen Anatomen, Künstlern und Schlachtern, wobei wenig Kraft auf die Aufgabe verwendet wird, die Unterschiede zwischen diesen Professionen aufzuzeigen. Immer wieder tauchen in Varianten Reihungen auf wie diese: „die Schaulust, das Begehren des anderen, bis zu Vergewaltigung und Mord“, als handele es sich dabei im Prinzip um dasselbe.

Richtig ist die Beobachtung, daß der junge Mann mit dem schlaffen Gliede in der „Spielhölle“ ein Bruch mit dem „pornographischen Genre“ bedeutet: „Hier ist eine krasse Störung des Bildes bürgerlicher Männlichkeit angezeigt.“ Wichtiger ist, daß dem spätwilhelminischen Establishment das Vorführen perfekt funktionierender Männlichkeit, wenn ich das so sagen darf, ebenfalls nicht in die Tüte kam.

Aber Hoffmann-Curtius ist nicht die einzige, die mit stumpfem Gerät im Nebel stochert, um den Künstler, der als Bourgeois ein bißchen schizo war, zum hundertsten Mal als Bürgerschreck zu retten. So heißt es in der Dissertation von Rosamunde Gräfin Neugebauer von der Schulenburg (Heidelberg 1990), Grosz enttäusche „in mehrfacher Weise die beim damaligen bürgerlichen Publikum mit dem Bildsujet Akt verbundene Erwartung [...] Mit ,unperfektem‘, ,unschönem‘ skizzenhaften Strich karikiert er die Modelle [...] und zeigt sie in unvorteilhaften Posen aus einer zudem die Intimsphäre verletzenden Blick.“ Die Einfühlung in den Spießer von Weimar – vom FAZ-Kunstmarkt bis zur Alma mater – ist natürlich eine rührende Geschichte. Aber mit dem Blick „des George Grosz“ hat dieses Gestümper nichts, aber auch gar nichts zu tun.

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