Drei-Prozent-Qualitäten

■ Horst Königstein produziert auf wunderbare Weise an der Quote vorbei: Seine Doku "Letzter Tanz" läuft am zweiten Weihnachtstag um 22.10 Uhr bei N3

Wenn der zweite Weihnachtsabend des Norddeutschen Dritten vorüber ist, wenn also Horst Königsteins „Letzter Tanz“ und auch die sich drei Stunden lang anschließende Collage „Diso Inferno“ abgespielt sind, wird es mal wieder heißen: keine Quote, war aber wichtig.

„Ich bin ein Fossil“, sagt der 49jährige, beim NDR festangestellte „Fernsehspielredakteur Horst Königstein, will meinen: einer, der nicht nur selbst Filme macht, sondern auch Produktionen von Kollegen verantwortet. Auf sein Konto gehen so wichtige TV-Produktionen wie „Das Hamburger Gift“ (die Geschichte über die Ursachen und Folgen des Giftskandals der Hamburger Filiale von Boehringer), „Gütt“ (ein Porträt eines Starjournalisten) oder eben „Der Mann im schwarzen Mantel“, eine experimentelle Annäherung an die DDR der sechziger Jahre am Beispiel des DDR- Wendepolitikers Manfred Ibrahim Böhme.

Dabei interessierte sich Königstein nur am Rande für die politischen Fakten des Falls. Böhme wurde für ihn erst spannend als eine Figur, die stolpert, sich in Lügen, Phantasien und Wahnvorstellungen verstrickt. Der gebürtige Bremer, gelernter Soziologe, nur im Referendariat einst wirkender Lehrer und Doktor der Philologie, ist sozusagen der deutsche Spezialist für tragische Schicksale, für die menschlichen Wechselfälle des Lebens zwischen Triumph und Boshaftigkeit. Er liebt, wie er sagt, „Müll“, den Kulturstoff, der in keinem Feuilleton bedacht und im Fernsehen allenfalls für die niederen Bildungsstände bereitgehalten wird.

Alle ernsthaften Fernsehpreise der Republik hat er schon eingeheimst, „Grimme“ und wie sie sonst alle heißen. Obwohl sich der Dr. phil Königstein dem Mainstream des Hollywoodkinos doch so verpflichtet fühlt, hat es bisher ausgerechnet zu den mehrheitspreisenden Publikumstrophäen, zum „Bambi“ oder zur „Goldenen Kamera“, noch nicht gereicht. Dafür ist die Königsteinsche Fernsehkost wohl zu schwer verdaulich, zu disparat, zu querdenkerisch. Aber auch Kritiker mosern gelegentlich, daß Königstein manche Geschichten wie „Du bist meine Mutter“ (über Joan Crawford) oder „Der Tag, an dem Elvis nach Bremerhaven kam“ nicht konsequent durchhalte, daß er abschweife und gewisse Brüche kaum verhülle. „Ja, das mag sein“, räumt der ein, „aber es ist nun mal so, daß es für meine Arbeit kaum Vorarbeiten gibt – also muß ich experimentieren und darauf hoffen, daß meine Zuschauer mitdenken – weil sie selbst geduldig genug sind zu wissen, daß man manchmal abschweift.“

Vielleicht ist es kein schlechter Weg, am Anfang der Dreharbeiten nicht immer zu wissen, was am Ende als Rohmaterial auf dem Schnittplatz landet. 1976 zum Beispiel, da drehte Königstein zusammen mit Hans-Jürgen Rosenbauer in einer Hamburger Sozialwohnungsbausiedlung einen Film über die Menschen, die dort leben müssen – und leben wollen. In einer Kneipe standen die Jungs und hörten die nöligen Lieder Udo Lindenbergs. Und die Frauen standen an der Jukebox und bewegten ihre Lippen zu Marianne Rosenbergs „Liebe kann so weh tun“.

Also heuerte Königstein die damals unumstrittene Schlagerkönigin an, um zu beobachten, was passiert, wenn die Rosenberg tatsächlich zu ihnen kommt. Die Reaktionen sind in dem Fernsehspiel „Die Leute von Mümmelmannsberg“ zu bestaunen. Die meisten Dokumentarfilme von heute wirken dagegen durchgestylt und viel zu schön, um tatsächlich glaubhaft zu sein.

Auch die Story über das „Studio 54“ verdankt sich einem Zufall: Al Corley, seit seiner Rolle als Steve im „Denver-Clan“ auch deutschen TV-Szeneasten bekannt und bei Königstein seit dessen Spielfilm „Hard Days, Hard Nights“ in Diensten, schlug vor, einmal die Sozialgeschichte des „Studio 54“ zu erzählen. Jene New Yorker Edel-Diskothek, die wie keine andere den Lifestyle der Achtziger geprägt hat. Dort wurden die musikalischen und ästhetischen Trends gesetzt, die später in Europa kopiert wurden: Das „Studio 54“ war der erste moderne Dancefloor der westlichen Welt, das erste öffentliche Bordell ohne Geld, die erste Drogenhöhle mit intellektuellem Anstrich. Alle gingen sie dort ein und aus, die kleinen und großen Sternchen, und zeigten und vergnügten sich unter den wachsamen Augen der vier ganz Großen: Liza Minelli, Bianca Jagger, Truman Capote und Andy Warhol.

Formell hat ein New Yorker Steuerfahnder dem Hedonismus ein Ende bereitet, in Wirklichkeit war es Aids, das dem muskel- und lendenstarken Gebaren auch kulturell eine gewisse Blockade vorgesetzt hat: „Mir war wichtig, diese Dinge zu zeigen“, meint Königstein – „sonst macht es ja keiner.“

Im kommenden Jahr will Königstein sich der Männerfreundschaft zwischen Franz Josef Strauß und Günter Schalck-Golodkowski zuwenden, natürlich wieder abseits der politischen Ränkespiele. Möglich, daß auch hier wieder nur drei Prozent zuschauen. Das muß zwar nicht unbedingt ein Zeichen von Qualität sein, aber es spricht auch nicht gegen sie. Jan Feddersen