: Sauffteuffel und Volksverbesserer
Vom archaischen Gelage zur Suchtgesellschaft: Eine Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols ■ Von Werner Trapp
„Der Umgang einer Kultur mit dem Alkohol erweist sich als ein Schlüssel zum Verständnis der Welt und des Menschen.“ Von dieser Feststellung aus macht sich der Berliner Historiker Hasso Spode auf die Suche nach den Ursachen für die historisch überaus zählebige „Macht der Trunkenheit“. Gut 3.000 Jahre deutscher (und auch schweizerischer) Geschichte geraten so in den Blick – ein Weg, der vom „archaischen Gelage“ einer vorchristlichen Welt bis hin zur Entdeckung der „Suchtpersönlichkeit“ im 19. und der Entwicklung zur „Suchtgesellschaft“ im 20. Jahrhundert führt.
Ein solcher Versuch richtet sich nicht zuletzt gegen eine bisher dominierende naturwissenschaftliche Sicht des Phänomens, welche ahistorisch von einem immer gleichen, „ewigen“ Körper ausgeht, für die Entstehung der Alkoholsucht jedoch bis heute noch keine befriedigende Erklärung anzubieten hat.
Doch Spodes Suche fördert nicht nur historische Unterschiede zutage, sondern vor allem auch Muster und Strukturen, die sich hartnäckig durch alle Zeiten hindurch behaupten konnten: Die Privilegierung der Männer und die entsprechende Stigmatisierung der Frauen beim Suff bietet dafür nur ein Beispiel. Schon den Germanen galt die Trunkenheit von Frauen in der Regel als verwerflich. Und noch das proletarische Wirtshaus des klassischen Industriezeitalters war eine exklusiv den Männern vorbehaltene Einrichtung. Auch ein zweites Muster zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte: Der fast immer vergebliche Versuch gesellschaftlicher Bewegungen, dem exzessiven Gebrauch alkoholischer Getränke mit einem allgemein akzeptierten Begriff vom „rechten Maß“ Einhalt zu gebieten.
Von der Völlerei zum rechten Maß
Am wenigsten Probleme damit hatten offenbar die Germanen: Ihnen galt die gemeinschaftliche, dem Zwang strenger Rituale unterworfene Berauschung am Festtag als ein hochgeachtetes Zeremoniell, auch wenn es in Besinnungslosigkeit und Totschlag münden konnte. Das christliche Mittelalter hingegen reflektierte erstmals über das „rechte Maß bei Tische“, vor allem die Klöster wurden zu Zentren einer neuen Askese. Eine neue Spezies der Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, die „Tischzuchten“, mahnten plötzlich, „dem Wein nicht unmäßig oder bis zur Trunkenheit zuzusprechen“. Doch wo genau das „rechte Maß“ endete und die Trunkenheit begann, das ließ man lieber im unklaren. Immerhin betrug die tägliche Bierration eines Fraters im Kloster St. Gallen im 10. Jahrhundert fünf Maß, und in den städtischen Spitälern des Hochmittelalters galten Zuteilungen von einem bis anderthalb Liter Wein pro Tag als durchaus üblich. Zwar waren die kirchlichen Strafen gegen Trunkenheit in der Theorie oft hart – in der Praxis änderte sich hingegen wenig, und gerade der Klerus selbst gab oft genug ein entsprechendes Beispiel. Zudem machte die schlechte Wasserqualität den Gebrauch von Wein und Bier als Nahrungsmittel häufig zu einer Überlebensfrage. Alkohol war über ein breites Spektrum von Funktionen fester Bestandteil der mittelalterlichen wie auch späterer Gesellschaften: Er war Mittel der Ernährung und Stärkung, aber auch Heil-, Genuß- und Rauschmittel sowie unverzichtbares Element magischer und kultischer Handlungen.
Aufputschmittel und Sedativum
Der Umbruch von der feudalen zur frühbürgerlich-neuzeitlichen Gesellschaft, die Geburt des modernen Individuums machte nicht nur eine deutliche Verfeinerung der Tischsitten notwendig – „Schmatzen, Erbrechen, Messerzücken, Über-den-Tisch-Greifen, Fluchen und Aus-der-Kanne-Trinken“ standen nunmehr unter Strafe. Zugleich brachte er eine Massenbewegung gegen die alte Trinkkultur hervor, die zunächst vom reformierten Klerus, bald auch von katholischer Seite getragen wurde. Die geistige und materielle Verunsicherung dieser Epoche tiefgreifender Veränderungen gebar den „ersten Krieg gegen Drogen“. Mit einer Unzahl von Streitschriften, Traktaten und Predigten zogen vor allem Geistliche gegen das Trinken zu Felde, darunter auch der Görlitzer Pfarrherr Matthäus Friedrich, dessen Sendbrief „Wider den Sauffteuffel“ an die „6.000 teuffel“ aufzählte, denen der Mensch durch dieses „Laster“ anheimfallen könne: „Wenn nun die vernunfft geschwecht und hin ist, so haben alsdenn die teuffel gut machen, denn der Mensch kan sich jrer nicht erweren und jnen widerstand thun...“
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung
Für das beginnende Zeitalter der Vernunft, für die innerweltlichen Tätigkeiten des modernen Berufsmenschen erwies sich übermäßiges Trinken als unzweckmäßig, mehr und mehr wurden nun dem neuzeitlichen Menschen die „innerweltlichen Kosten des Trinkens vorgerechnet“.
Doch die Bewegung stieß rasch an eherne Grenzen. Schlimmer noch: Gerade die Chroniken des 16. und 17. Jahrhunderts sind voll von Schilderungen wüster Trinkgelage von Adel und hohem Klerus, ja der Kulturgeschichte gilt gerade diese Epoche als die „Hauptzechperiode“ überhaupt. Immerhin lag damals auch der „hypothetische Durchschnittsverbrauch“ eines Erwachsenen in den oberdeutschen Städten bei einem Liter Wein pro Tag, der Bierverbrauch gar bei 250 bis 400 Liter pro Kopf und Jahr.
Diese Verbrauchsmengen indessen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die gesamte Trinkkultur nunmehr grundlegend verändert: Im 17. Jahrhundert tritt der „große Ernüchterer“ auf den Plan, der Kaffee, „Beförderer und Symbol der puren Ratio“. Kannten das europäische Altertum und das Mittelalter nur „Betäubungsmittel“, so gab es, zusammen mit Tee und Trinkschokolade, nunmehr auch „Enttäubungsmittel“, Pharmaka, die „nüchterne Räusche“ bewirkten. Der Kaffee als „Droge der protestantischen Ethik, des Rationalismus und der Aufklärung“ wird zum Medium der Entstehung einer neuen bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich in Salons und Kaffeehäusern organisiert. Wie auch sein Antipode, der zur gleichen Zeit Verbreitung findende „Branntwein“, ist er zunächst ein Privileg der Oberschichten, um 1800 hingegen bereits ein Getränk der gemeinen Leute.
Der Siegeszug des Kaffees bedeutet aber keineswegs die Niederlage der Trunkenheit. Vor allem der Branntwein hat bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als Nahrungs- und Stärkungsmittel wie als „Medizin“ die Unterschichten erobert und das Bier als Volksnahrungsmittel verdrängt. Und nachdem sich das Angebot durch die Einführung von Kartoffelschnaps und die Branntweinherstellung nach kapitalistischen Prinzipien beträchtlich vermehrt und zugleich erheblich verbilligt hatte, wurden die ärmeren Klassen von einer wahren „Schnapsflut“ überschwemmt.
Der neue Zwang zur Nüchternheit
Gegen diese bildet sich im Vormärz eine Massenbewegung von „Mäßigkeitsvereinen“, die 1837 erst einige tausend, zehn Jahre später dagegen schon Hunderttausende von Anhängern zählt. In der „Branntweinpest“ hatten Klerus und die „gebildeten Stände“ die Ursache für jenes „Chaos“ ausgemacht, als welches der bedrohliche Wandel gesellschaftlicher Strukturen in der Zeit der Frühindustrialisierung vielfach empfunden wurde. Der „moralische Ruin“ des Trinkers galt zugleich als der Ruin der Gesellschaft. In den Händen der Unterschichten, der classes dangereuses, kam dem Schnaps eine gefährliche ambivalente Doppelrolle zu – er war notwendiges Aufputschmittel und unverzichtbares Sedativum zugleich. Zur Bekämpfung dieser Gefahr schwankten Bürgertum und Obrigkeit zwischen der „Scylla der durch den Schnaps gespeisten Unordnung, besonders der Revolution durch Schnapszufuhr, und der Charybdis der Revolution, die vielleicht durch Schnapsentzug ausgebrochen wäre“. Diese zögerliche Haltung, aber auch der Ruch pietistischer Freudlosigkeit und Sektierertums und nicht zuletzt die Doppelmoral der höheren Stände, die dem gemeinen Volk Wasser predigten und selbst (Brannt-)Wein tranken, bewirkten, daß die Gefahr bis 1870 aus dem öffentlichen Bewußtsein weitgehend verschwunden war, ohne daß sich der Prokopfverbrauch an Alkohol merklich gesenkt hätte.
Doch die „Konjunktur des Themas“ in der Öffentlichkeit war damit nur kurzzeitig unterbrochen. Parallel zum Diskurs von Ethik und Moral, der im Trinken ein auf freier Willensentscheidung und moralischer Schwäche des einzelnen basierendes „böses Laster“ sah, gesellte sich der „Diskurs der Ärzte“, aus dem ein gänzlich neues und letztlich bis heute gültiges „Alkoholwissen“ hervorging. Das moderne Paradigma wurde erstmals von dem Moskauer Arzt Carl von Brühl-Cramer in einer 1819 in Berlin erschienenen Abhandlung formuliert, deren Titel „Die Trunksucht und eine rationelle Heilmethode derselben“ bereits programmatischen Charakter hatte. Sie führt erstmals den Begriff der „Trunksucht“ als einer individualmedizinisch zu behandelnden „Krankheit“ ein und entwickelt systematisch deren Ätiologie und Symptomatologie. Folglich waren auch Ärzte die Motoren der zweiten großen Mäßigkeitsbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die dem neuen Alkoholwissen erst eine breite gesellschaftliche Akzeptanz verschaffte. Trinken gilt nunmehr als Abweichung von einer wissenschaftlich verbindlich erklärten Norm, der Trinker wird zum pathologisierten Subjekt: „Der Blick auf ihn wird mitfühlend und zugleich auf eine neue Art unerbittlich; er wird nicht mehr bestraft, sondern zur Vernunft gebracht.“
Im extrem störanfälligen „Organismus der modernen Fabrik“ gewinnt die neue „Alkoholfrage“ erstmals Konturen, hier zeigt sich der neue „Zwang zur Nüchternheit“ am deutlichsten. Ihre volle Sprengkraft aber entfaltet sie erst mit den im Zuge von Imperialismus und Sozialdarwinismus populär werdenden „Degenerationstheorien“, die eine allmähliche „Entartung“ der Gesellschaft durch die damals vermuteten verheerenden Wirkungen der „Rauschzeugung“, d.h. der keimschädigenden Wirkung des Alkohols, befürchteten. Dagegen half in den Augen ihrer radikalsten Vertreter nur noch absolute Abstinenz. Einer der wichtigsten Protagonisten einer sich von der Mäßigkeitsbewegung abspaltenden und radikalisierenden „Abstinenzbewegung“ war der Schweizer Psychiater, Sozialist und Pazifist Auguste Forel. Er sah den Trinker als „arge Pestbeule an unserem gesellschaftlichen Körper“, der die „Entartung der Nachkommenschaft“ fahrlässig in Kauf nehme und dessen Fortpflanzung durch „strenge Zuchtwahl“ auszuschließen sei. Alkoholforscher forderten so im Verein mit „Rassehygienikern“ die „Ausmerze unverbesserlicher Elemente“ – einer „Art von Ungeziefer, das rücksichtslos vernichtet werden muß“. In der berühmten, zeitweise von Forel geleiteten Irrenanstalt „Burghölzi“ bei Zürich wurden Alkoholiker denn auch schon vor dem Ersten Weltkrieg zwangssterilisiert.
Krankheitsverdikt als Sanktionierung
Die wesentlichen Träger der neuen Mäßigkeitsbewegung hingegen gingen weniger rabiat vor, sie setzten auf eine „Doppelstrategie“ aus Aufklärung und Propaganda auf der einen sowie Entmündigung und Zwangstherapie auf der anderen Seite. Vor allem aber formulierten sie das Problem als Teil einer sehr viel umfassenderen „sozialen Frage“, der Verarmung und Verelendung der arbeitenden Massen in der sich formierenden Fabrikgesellschaft. Bürgertum und sozialistische Arbeiterbewegung bemühten sich gleichermaßen um die „Veredelung“ und Disziplinierung, sprich: Ernüchterung des Arbeiters. Bannte der Bürger durch die Erziehung desselben zum mäßigen Trinken das „Gespenst der Revolution“, jenes umstandslos mit der Sozialdemokratie identifizierte „Syndrom aus Schnaps, Sexualität, Gewalt und Delinquenz“, so gingen die führenden Köpfe des Sozialismus davon aus, daß allein eine „nüchterne, disziplinierte Arbeiterklasse“ in der Lage war, „ihre historische Mission“ zu erfüllen.
Beide waren, so Spode, auf lange Sicht durchaus erfolgreich. Nicht unbedingt im Sinne einer deutlichen Reduzierung des Alkoholkonsums: Noch eine Studie aus dem Jahre 1989 vermutete in der alten Bundesrepublik „chronischen Alkoholmißbrauch“ bei 15 bis 54 Prozent (!) der Bevölkerung und bezifferte dessen „volkswirtschaftliche Schäden“ mit der beachtlichen Bandbreite zwischen „6 Mrd. und 113 Mrd. DM pro Jahr“. Erfolgreich waren sie vielmehr als Fermente in einem säkularen Prozeß, der die Außensteuerung des Menschen zunehmend durch Selbstkontrolle und Selbststeuerung ersetzte.
Die „permissive Gesellschaft“ der Gegenwart, so ein Fazit des Buches, kann daher auf strenge Reglements durchaus verzichten: „Der ,Normale‘ mag unbehelligt sein Glas Wein genießen – in definierten Enklaven und ,hinter Kulissen‘ auch einmal mehr.“ Nur eines gilt es zu beachten: die Grenze zwischen „normalem Trinken und Suchtentwicklung“. Die diffizile Gratwanderung zwischen „normalem und abweichendem Trinken“ ist so zum wohl „wichtigsten Kennzeichen des modernen Umgangs mit dem Rauschmittel Alkohol“ überhaupt geworden. Wo genau die Grenze verläuft, ist seit dem Mittelalter unklar geblieben. Ihre Überschreitung aber wird heute mit aller Schärfe geahndet – mit dem Krankheitsverdikt.
Hasso Spode: „Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland“. Leske Verlag + Budrich, 387 Seiten, 48 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen