: Vorsicht: Absturzgefahr!
■ Die Diskursethik hält sich am „Geländer“ der Gerechtigkeit fest – Rainer Forsts „Kontexte der Gerechtigkeit“ / Was wäre, könnte Justitia sehen?
Mit verbundenen Augen wie weiland „Justitia“ und aus dem Stand heraus scheint die aktuelle Philosophie in ihrer diskurs-ethischen deutschen Variante gesellschaftliche und politische Probleme abwägen zu wollen. In seinem Buch „Kontexte der Gerechtigkeit“ will Rainer Forst das Selbst und die Gemeinschaft, die Parameter der Reflexion von Liberalismus und Kommunitarismus in ihren jüngsten US-amerikanischen Fassungen neu vernetzen.
Die grundbegriffliche Klärung von „Gerechtigkeit“ soll die kontext-versessenen kommunitaristischen und die kontext-vergessenen liberalen Theoretiker zusammenführen. Es gibt kaum eine Schnittstelle im amerikanischen Dialog dieser Kontrahenten, die der Autor unerwähnt läßt.
Sein Buch stellt daher in weiten Teilen eine stupende, philosophiehistorische Zusammenfassung der amerikanischen Theoriediskussionen der letzten 25 Jahre dar, zwischen 1971, dem Erscheinungsjahr von Rawls' „Theorie der Gerechtigkeit“, und 1989, dem Erscheinungsjahr von Taylors „Sources of the Self“, das in diesem Herbst auch in deutscher Sprache erschien (Charles Taylor, „Quellen des Selbst“).
Mit Blick auf diese amerikanische Theorie-Debatte, ihre Entstehung, ihre Positionen und ihre Fortentwicklung kommt Rainer Forst zu dem Schluß, daß dem individuellen und dem sozialen „Guten“ sowohl Kriterien von Reziprozität als auch von Allgemeinheit zu unterlegen sind. Das soll heißen: in Ermangelung letzter Gewißheiten muß jede politische Vernunft sich in selbstkritischer und rekursiver Unbedingtheit ein „Geländer“ schmieden, das aus Wechselseitigkeits- und Anerkennungsregeln zusammengeschweißt wird.
Ohne ein solches Geländer kommt die Diskursethik von Rainer Forst im Anschluß an Jürgen Habermas und Axel Henneth nicht aus. Und dies ist der wichtigste, der letzte Teil seiner Untersuchung: der Versuch zu zeigen, wie Person und Gesellschaft in einem „Kontext-Geländer“ von Gerechtigkeit festgehalten werden. „Anerkennung“ ist die polit-philosophische Zauberformel, die Individuum und Gemeinschaft in ihrer Wechselseitigkeit ausweisen soll, zugleich aber nicht vermischen darf, und dadurch Gerechtigkeit garantieren kann.
Gerechtigkeit hat mit Machtverhältnissen zu tun
Wie extrem absturzgefährdet die Diskursethik mit diesem fragilen Geländer operiert, zeigt sich dort, wo sie die „Gesamtgesellschaft“ zu jener Instanz macht, „an die sich Ansprüche auf die Anerkennung (Schätzung) des Wertes eines individuellen Lebens in seiner Besonderheit richten“.
Wenn die „Kontexte der Gerechtigkeit“ in einem Kampf um Anerkennung stehen und fallen, letztendlich aber eine imaginäre gesamtgesellschaftliche Instanz ihr Gradmesser und die Kompaßnadel allein auf sie ausgerichtet ist, weil sie den Richtspruch fällt, – wozu dient dann der ganze Begründungszauber?
Die Diskursethik geht – das ist für Rainer Forsts Studie symptomatisch – strikt der Machtanalyse aus dem Weg. Daß Gerechtigkeit eine Frage der realen Machtverhältnisse, der alltäglichen und gesellschaftlichen Kämpfe ums Leben und Überleben ist, bleibt ihr verborgen. Ihre Reziprozitäts- und Akzeptanzregeln haben etwas von dem Geist Pinocchios bei der Suche nach dem eigenen Vater: Mit ihnen kann man nur auf die Nase fallen. Und man fragt sich fortwährend, wer ist der Schöpfer dieser Figur: Hegel oder Habermas?
Das Schwert in der einen Hand der blinden „Justitia“, auf deren „Unparteilichkeit“ sich Rainer Forst leitmotivisch in seiner Untersuchung bezieht, verbürgt nicht „die Endgültigkeit und die Autorität des Urteils“. Es läßt sich vollkommen anders deuten: Es weist darauf hin, daß der Kampf um Gerechtigkeit mit allen erdenklichen Waffen und Mitteln ausgetragen wird. Und nicht zu vergessen ist ihre andere Seite: es kann eine Balance der Macht geben, dann nämlich, wenn sich politische Kräfte die Waage halten.
„Justitia“, die Gerechtigkeit, ist jedoch eines vor allem: eine mit verbundenen Augen dargestellte Frau. Ihre verbundenen Augen versinnbildlichen nicht ihre wie auch immer geartete Un- und Überparteilichkeit, sondern die verdrängte und unterdrückte Geschlechterspannung, die in den gesellschaftlichen Kämpfen auf dem Spiel steht. Könnte diese Frau sehen, nähmen wir ihr die Binde von den Augen – nicht auszudenken, wie es dann um unsere alltäglichen Machtkämpfe bestellt wäre.
Letztendlich will uns die Diskursethik wohl davor bewahren, in diese, unsere Gegenwart abzustürzen. Und irgendwie ist dies wiederum auch das Sympathische an ihr vor allen anderen Theorie- Moden: Sie will uns ihre selbstgeschnitzten Kontext-Figuren an die Hand geben, damit wir nicht abstürzen und auf die Nase fallen. Manfred Bauschulte
Rainer Forst, „Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994, 480 Seiten, 68 DM.
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