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Wie StraftäterInnen behandelt

In Estland sind 85 kurdische Flüchtlinge seit 18 Monaten inhaftiert / Finnland will sie aufnehmen, doch Estland will „kein Präjudiz“ schaffen / Zweifelhafte Taktik des UNHCR  ■ Aus Tallinn von Reinhard Wolff

„Wir werden ihnen einen Weihnachtsbaum reinstellen“, verspricht Heiki Sikka, der Direktor des Frauengefängnisses Harku – ein schwacher Trost für die 20 Kinder, die heute ihr zweites Weihnachtsfest im Gefängnis verbringen. Menschenschmuggler haben sie und ihre Eltern vor 18 Monaten in Estland stranden lassen – doch das Versprechen, sie in ein „sicheres“ skandinavisches Asylland zu schaffen, wurde nicht eingelöst. Seitdem sitzen 85 kurdische Flüchtlinge aus dem Irak in Estland fest, inhaftiert wegen illegaler Einreise. Bis heute hat sie kein Gericht verurteilt, und doch werden sie wie StraftäterInnen behandelt.

Obwohl die KurdInnen zu unschuldigen Opfern eines politischen Tauziehens geworden sind, hält der Gefängnischef von Hafterleichterungen nichts. Denn weder für Sikka noch für die Justiz sind die KurdInnen Flüchtlinge. Wie auch: Estland kennt kein Asylrecht, der Begriff „Flüchtling“ taucht in keinem Gesetz auf. Die 85 Menschen sind somit lediglich „illegale Einwanderer“, die die estnischen Visabestimmungen verletzt haben. Deshalb kann der zuständige Richter ihre Haft alle zwei Monate ohne Verhandlung per einfacher Unterschrift verlängern.

Jüri Ruus, stellvertretender Bürochef beim Innenministerium in Tallinn und formal zuständig für diesen Skandal, schämt sich nicht etwa dafür, wie man die Flüchtlinge behandelt. „Sie sollten froh sein, daß sie in unseren Gefängnissen bleiben dürften“ – schließlich könnte man sie auch nach Rußland zurückschicken. Magnus Rydén, Repräsentant des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge, bestätigt das: Denn Estland hat die Genfer UN-Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet, weil es sich aus „ökonomischen Gründen“ auch nicht in der Lage sieht, Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Und somit ist jedEr, der trotzdem kommt, ein „Illegaler“. In den letzten zwölf Monaten betraf dies etwa 1.000 Flüchtlinge.

Nur, mit dem Zurückschaffen nach Rußland klappt es durchweg nicht, da man den russischen Behörden nicht nachweisen kann, daß die Flüchtlinge von dort eingereist sind – oder die angeblichen Beweise nicht akzeptiert werden. Dabei könnten die 85 in den Gefängnissen von Tallinn und Umgebung schon längst in Finnland oder Schweden Aufnahme gefunden haben: Nach mehreren aufsehenerregenden Reportagen im Fernsehen und in der Presse über ihr Schicksal wuchs der öffentliche Druck so, daß sich zunächst Helsinki und dann auch Stockholm zu einer Aufnahme bereit erklärten. Doch Estland will kein Präjudiz schaffen, da Tallinn die Signalwirkung einer solchen „legalen Durchschleusung“ auf die Hunderttausenden fürchtet, die angeblich jenseits der Grenze warten.

Ende September war die Situation für die 85 Internierten so unerträglich geworden, daß sie in einen Hungerstreik traten. Bis dahin hatte man die Familien zerrissen, Männer, Frauen und Jugendliche in drei verschiedenen Gefängnissen untergebracht. Jetzt sind wenigstens die Familien mit kleinen Kindern in Harku zusammengelegt worden. Die Männer im Gefängnis von Pärnu jedoch, und die 15 Jugendlichen im Jugendgefängnis von Maardu müssen sich ihre Zellen weiterhin mit „gewöhnlichen“ Straftätern teilten.

Doch nicht nur Tallinn scheint an ihnen ein Exempel statuieren zu wollen, sondern auch das UNHCR. Nytte Ekman von der finnischen Flüchtlingshilfeorganisation „Nadas“ wirft dem UNHCR eine Taktik auf dem Rücken der 85 vor, „weil man eine ,lokale Lösung‘ durchdrücken will“. Die 85 Flüchtlinge seit 18 Monaten Geiseln des UNHCR, um Druck auf Estland zu machen? Das UNHCR möchte, daß Estland eine eigene Asylgesetzgebung aufbaut. Laut Presseberichten hat das UNHCR-Büro in Stockholm eine Direktive der Zentrale in Genf bekommen, sich keinesfalls für eine isolierte Ausreise der KurdInnen einzusetzen. In Stockholm schweigt man dazu offiziell, verweist nach Genf – „zuständigkeitshalber“. Doch auch von dort ist kein Kommentar zu erhalten.

Ihren Hungerstreik hatten die verzweifelten Flüchtlinge nach mehr als drei Wochen abgebrochen – nachdem man ihnen die Ausreise nach Finnland zugesagt hatte! Die Zusage kam von Justizminister Urmas Arumäe, der wenige Tage nach seiner Zusage zusammen mit der ganzen Regierung des Ministerpräsidenten Mart Laar zurücktreten mußte. Sein Nachfolger im Amt, Jüri Adams, fühlt sich an das Versprechen seines Amtsvorgängers ebensowenig gebunden, wie der neue Ministerpräsident Andres Tarand.

Kein Land hat sich bislang grundsätzlich bereit erklärt, mit den baltischen Staaten Übereinkommen über die Aufnahme dort „gestrandeter“ Flüchtlinge zu treffen. Estland will mit der Internierung der 85 KurdInnen eine solche Gesamtlösung erreichen. Hierbei scheint Tallinn an eine Art Quotenregelung zu denken, wonach sich nordische und westeuropäische Länder grundsätzlich bereit erklären sollen, in Estland einreisende Flüchtlinge aufzunehmen. Angesichts des Neins des Westens hierzu ist die Politik Estlands letztendlich nur eine Konsequenz der nun nahezu in ganz Europa geltenden „Drittstaatenregelung“.

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