piwik no script img

B.B. ist für alle da

Im bat-Studiotheater wurde „schulintern“ Brechts „Maßnahme“ inszeniert, die von seinen Erben noch strikt unter Verschluß gehalten wird  ■ Von Dirk Nümann

Die Aufführung, über die hier zu berichten ist, fand gewissermaßen gar nicht statt. Das bat-Studiotheater verschickte keine Einladungen, man mußte an der Kasse keinen Eintritt zahlen, es gab kein Programmheft, man traf keinen der Journalisten-Kollegen, denn an der Ernst-Busch-Schauspielschule wollte man diesmal ganz unter sich sein: Die Aufführung war als intern deklariert, und der ungeladene Gast verspürte einen Hauch von Konspiration.

Dabei spielte man nur Brecht, ja, den ollen B.B., der so gerne mit der Floskel „verstaubter Klassiker“ abgetan wird, über dessen V- Effekt höchstens noch Deutsch- Leistungskurse grübeln und der, weil sich scheinbar niemand mehr fürs Werk interessiert, neuerdings Gegenstand von Enthüllungsbiographien geworden ist: Brecht der Frauenfeind, der Dichter als Schweinehund.

Und doch gibt es ein Stück von B.B., dessen Aufführung verboten ist. Nicht von staatlicher Seite; Brecht hat dieses Verbot leichtsinnigerweise selbst zuweilen ausgesprochen; und seit vielen Jahren wachen nun die Brecht-Erben streng darüber; glauben sie doch, Brecht gegen die Welt, aber vor allem Brecht gegen Brecht schützen zu müssen.

Lehrstück politischer Vereinnahmung

Das Stück, um das es geht, ist „Die Maßnahme“: 1929 verfaßt, von Hanns Eisler unter Mitarbeit von Slatan Dudow vertont, 1930 uraufgeführt, seitdem gelegentlich im privaten Zirkel nachgespielt; jede Aufführung ein Rarissimo. Aber was, werden nun vielleicht die Brechtmuffel fragen, ist denn so anstößig an der „Maßnahme“? Die Antwort hierauf fällt nicht leicht.

Das Stück handelt von vier Agitatoren, die vor einem Parteigericht, dem „Kontrollchor“, eine Maßnahme während einer revolutionären Aktion in China rechtfertigen: die Erschießung eines „jungen Genossen“. An vier Modellszenen wird vorgeführt, wie er durch Mitleid und emotionales Handeln die Bewegung gefährdet, so daß kein anderer Ausweg mehr bleibt als seine „Auslöschung“, zu der er ausdrücklich das Einverständnis gibt. Nur so kann der revolutionäre Auftrag erfolgreich beendet werden; der Kontrollchor kann die Maßnahme deshalb nur begrüßen.

So weit, so unkompliziert. Kompliziert ist allerdings an diesem als Lehrstück bezeichneten Werk, wer daraus welche Lehre zu ziehen hat. Der Literaturwissenschaftler Reiner Steinweg behauptete, das Stück sei gar nicht zur Aufführung vor einem Publikum gemacht, sondern eine Übung für einen Massenchor und vier Darsteller. Marxistische Weise wie Ernst Schuhmacher bemäkelten, wie weit Brecht sich von einem klassenkämpferischen Standpunkt entfernt habe, wie extrem er doch das Individuell-Persönliche negiere. Bürgerliche Kritiker wie Joachim Kaiser hingegen betonten gerade, wie eigensinnig der junge Genosse gezeichnet sei, so daß er den Kontrollchor zu „mehr oder weniger grauen Ideen-Nullen“ degradiere...

Derart stritten die Gelehrten über Maßnahmen für oder gegen die Maßnahme, viele, viele Jahre lang, verfaßten viele, viele Kampfschriften, ohne freilich eine Einigung zu erzielen – die Parteien buddelten sich wie Militaristen in Gräben ein, und irgendwann ging der wissenschaftliche Disput gar nicht mehr um das anstößige Brechtwerk, sondern nur noch um die Verteidigung der eigenen Ideologie. Das Lehrstück über eine moderne Tragödie der Wirklichkeit wurde so zum Lehrstück über die politische Vereinnahmung einer Dichtung.

Winzige Variationen, immense Wirkung

Es ist nun das Verdienst der Schauspielschule, zum eigentlichen Stück-Text zurückzukehren, zu versuchen, ideologische Gräben zu überspringen, die Rezeptionsgeschichte bewußt außen vor zu lassen, um zu prüfen, ob dieser Text denn eigentlich fürs Theater tauge, ob die Versuchsanordnung funktioniere. Um das zu untersuchen, bedienen sich die Regisseure Tom Kühnel und Robert Schuster eines Tricks: Sie lassen das kurze Stück zweimal spielen, mit scheinbar minimalen Veränderungen, die jedoch große Wirkung erzielen.

Die Bühne zeigt den Ausschnitt eines grauen Gerichtssaals. Wie Hühner auf der Leiter sitzen dem Publikum gegenüber zwei mal vier halbmetergroße graugewandete Puppen: der Kontrollchor und die vier Agitatoren, die wie Richter auf vier unter ihnen stehende, gleichfalls grau in chinesischen Schnitten gekleidete Schauspieler blicken.

Untermalt und vorangetrieben von der stark rhythmisierten Musik Eislers wird nun in Liedern und Sprechgesang die Maßnahme verhandelt, wobei die vier Schauspieler Schlüsselszenen vom Propagandafeldzug in China wie in lebenden Bildern nachstellen. Entscheidend ist, daß immer einer, und zwar immer derselbe, gegen drei steht und daß eine lange Pause der Gewissensprüfung das Stück zerschneidet, bevor der junge Genosse das Einverständnis mit seinem Tod erklärt.

Poetisch und theaterwirksam

Bei der zweiten Aufführung sieht man das gleiche Szenarium, so, als sei ein Ausschnitt vergrößert worden, als habe man mittels eines Zoom-Objektivs die Richter vergrößert. Statt acht Puppen sitzen nun Schauspieler auf den zwei Gerichtsbänken: Kontrollchor und Agitatoren. Die Modellsituationen werden nicht mehr nachgestellt, sondern nur noch durch karge Gesten angedeutet, der Gegensatz zwischen Kollektiv und Individuum ist aufgehoben, jeder spielt einmal den jungen Genossen. Doch die große Differenz ist, diesmal wird die lange Pause der Reflexion eingeschaltet, bevor die Gruppe das Todesurteil fällt. Die zweite Pause, die vor dem Einverständnis, wird überspielt.

Durch diese geradezu geniale unterschiedliche Betonung der einzigen beiden Pausen in dem Stück gelingt es den Regisseuren, den tragischen Konflikt zu verschieben. Sieht man im ersten Teil das Stück aus der Perspektive des jungen Genossen vor einem Puppengerichtshof, so im zweiten aus dem Blickwinkel des Kollektivs, das durch die Maßnahme auch sich selbst gefährdet. Das Stück wird durch diese Verschiebung geöffnet, erhält Ambivalenz und fordert schließlich den Zuschauer zum Urteil auf – denn wie Hühner auf der Gerichtsbank hockt ja auch das Publikum dem Geschehen gegenüber.

Erstaunlich ist bei alledem, wie frisch, unverbraucht, theaterwirksam das Lehrstück wirkt. Die reduzierte Sprache klingt poetisch, die nur von Klavier begleiteten Lieder und Rezitative sind kraftvoll, in der Interpretation der Studenten erscheint das Stück lebendig und gerade in seiner Einfachheit schön.

Mythenbildung statt Diskussion

Auch wenn diese Aufführung sicherlich noch nicht beweist, daß dieses Lehrstück wirklich, wie Brecht einmal sagte, das Theater der Zukunft antizipiere, so belegt die Unternehmung der Ernst- Busch-Schauspielschule doch, daß das umstrittene Werk nicht den Archivaren und Germanisten überlassen werden sollte, sondern auf die Bühne gehört, ausprobiert werden muß; so reich ist unsere Dramatik nicht, als daß wir auf Brechts Versuchsanordnung über die Veränderbarkeit der Wirklichkeit verzichten könnten.

Die Erben des Dichters, die während der inoffiziellen Veranstaltung zugegen waren, sollten deshalb diese Inszenierung zum Anlaß nehmen, ihr Aufführungsverbot aufzuheben; auch auf die Gefahr hin, daß in zukünftigen Inszenierungen Mißverständnisse entstehen können. Es ist an der Zeit, Brecht frei von ideologischen Schranken zu betrachten. Es darf nicht immer so sein, daß alles, was irgendwie nonkonformistisch ist, ob Jünger, Strauß oder dieser Brecht, diffamiert, totgeschwiegen und schließlich verboten wird. Diskussion wird so verhindert, Mythenbildung gefördert. Das ist sicherlich nicht im Sinne von B.B.

Übrigens soll diese Veranstaltung, die offiziell gar nicht stattfand, noch weitere Male offiziell nicht stattfinden. Auskünfte, wann die „Maßnahme“ garantiert nicht für zahlendens Publikum aufgeführt wird, sind im bat einzuholen.

Information: bat-Studiotheater, Belforter Straße 15, Prenzlauer Berg, Telefon: 4427996.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen