: „Wo ist unser Idealismus geblieben?“
Von der Kinderladenbewegung 1968, bei der die Erziehungsarbeit mit den Kindern eine politische Dimension annehmen sollte, zu den heutigen Kinderläden in Berlin ■ Von einem betroffenen Vater
Der Aktionsrat zur Befreiung der Frau, der während der Studentenbewegung im Januar 1968 entstand, forderte den Aufbau von Kinderläden. Als Ziele wurden genannt:
„Erarbeitung revolutionärer Erziehungsmethoden und Schaffung eines emanzipatorischen Gegenmodells, das zum Kampf gegen die Institutionen benützt und später weniger privilegierten Frauen zugänglich gemacht werden sollte. Aufhebung der Isolation der Frauen mit Kindern. Die Kinder sollten sich im Kollektiv emanzipieren, wodurch auch ihre Isolation beendet wird. Die freigesetzte Arbeitskraft und -zeit sollte, für die theoretische und praktische Erziehungsarbeit genutzt, den politischen Bewußtwerdungsprozeß einleiten.“ (Dieses Zitat wie alle weiteren Zitate stammen aus dem Buch „Kinderläden – Revolution der Erziehung oder Erziehung zur Revolution?“, rororo 1971)
Berlin, Herbst 1994. Wir haben glücklicherweise einen Kinderladenplatz für unser 14 Monate altes Kind gefunden. Viele suchen vergeblich. In Berlin gibt es inzwischen knapp 600 Elterninitiativkinderläden (EKT) mit rund 11.000 Kindern. Immer noch wenig im Vergleich zu den knapp 140.000 Plätzen in den landeseigenen Kindertagesstätten.
Unser Kind war 4 Monate in einer solchen staatlichen Kita. Wie 1968 werden die Kinder dort immer noch zu autoritären Charakteren erzogen, sie werden deformiert. Überforderte ErzieherInnen dressieren Kleinkinder zum Stillsitzen und sauber Essen, damit sie ihr Arbeitspensum schaffen. Aber die Kitas sind billig: 70 Mark im Monat für Geringverdiener. Und geöffnet haben sie von 6 bis 17 Uhr. Wie soll eine berufstätige, alleinerziehende Mutter die durchschnittlich 200 Mark für einen Kinderladen aufbringen, der zudem nie vor 9 Uhr öffnet und um 15 Uhr dichtmacht? Wie 1968 sind Kinderläden ein bürgerliches Privileg.
Wir wollen nicht, daß unser Kind deformiert wird. Wir wollen, daß es sich frei entfalten kann. Wir sind nicht mehr auf den Kitaplatz angewiesen, wir haben jetzt Geld und vor allem Zeit genug für einen Kinderladen. Wir sind bereit zur Elternarbeit, das heißt einmal wöchentlich kochen oder putzen. Inzwischen haben wir gehört, daß es einen Beschluß der Eltern gibt, jemanden über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für diese Arbeit zu gewinnen. Das wäre dann die dritte bezahlte Arbeitskraft des Elternvereins, neben den beiden Erziehern. Die Elternarbeit fiele weg, der Geldbetrag bliebe gleich.
Wir sind eine Kleinfamilie, und wir haben uns gedacht, daß wir im Kinderladen Leute kennenlernen, mit denen wir uns austauschen können, über Pädagogik zum Beispiel. Wir sind bereit zu regelmäßigen Elternabenden. Dafür müssen wir lange im voraus immer schon einen Babysitter organisieren. Mehr können wir nicht leisten. Uns erscheint es unrealistisch, mit den anderen Eltern zusammen zu leben, in einer Kommune etwa. Es fehlt an großen, bezahlbaren Wohnungen. Außerdem sind die uns teilweise ziemlich unsympathisch.
„Wegen der Kontinuität der Erfahrungen im Kinderkollektiv und zu Hause und der Reproduktion gesellschaftlicher Zwangs- und Unterdrückungsmechanismen in der Kleinfamilie ist eine kollektive Arbeit unumgänglich, die den Privatbereich der einzelnen weitgehend auflöst; die Gefahr jedoch besteht, daß diese Elternkollektive sich nur noch mit Psychologie beschäftigen. Ihr alleiniges Interesse bleiben die Kinder. Die Konflikte der einzelnen Kinder und die Konflikte des Kollektivs haben gesellschaftlichen Zusammenhang und sind nur in diesem Zusammenhang zu lösen.
Die Unmöglichkeit, die autoritären Strukturen der bürgerlichen Kleinfamilie und ihre Reproduktionsmechanismen von sich aus aufzulösen, führt in vielen Kinderläden zu Ehekrisen und Massenflucht in die Kommunen.“
Die Erzieherin am Telefon sagte, wir sollten uns Dienstag vormittag vorstellen kommen. Einige Tage vorher hatte uns ein Vater abgesagt, weil der Laden einen Jungen suche und nicht ein Mädchen. Wegen der Parität. (Im Moment suchen wir übrigens einen männlichen Erzieher, der mit der Erzieherin zusammenarbeiten soll. Die Mehrheit der Eltern vertritt den Standpunkt, daß das „männliche Element“ in der frühen Kindererziehung bereits vertreten sein sollte.)
Wie verabredet sind wir Dienstag vormittag hingegangen, aufgeregt wie vor einem Bewerbungsgespräch. Sofort war klar, worum es primär ging: Paßt unser Kind in die Gruppe? Unser Kind und wir wurden beobachtet. Es wurden kaum Fragen gestellt. Zum Beispiel fragen sich Bürger nicht, wovon sie leben. Man erkennt auch so, ob man eher bürgerlich oder eher proletarisch ist.
Mit einem unguten Gefühl sind wir wieder gegangen. Sie sagten uns, nach dem nächsten Elternabend würden sie uns Bescheid geben. Sie meinten, wir könnten uns dort ja noch einmal vorstellen. Das lehnten wir ab. Es ist unerträglich, sich und das unberechenbare Kleinkind derartig präsentieren zu müssen. Jedenfalls ließen sie uns spüren, daß sie wissen, daß es nicht viele freie Kinderladenplätze gibt.
Wir bekamen die Zusage. Aber in dem Protokoll des Elternabends lasen wir, daß eine Mutter tatsächlich Bedenken hinsichtlich unserer Tochter äußerte, weil sie 4 Monate in einer staatlichen Kita war, sozusagen „kitageschädigt“. Und ein derartiges Kind könne das eigene Kind möglicherweise in der Entwicklung schaden... Wir sind froh, daß wir den Platz haben. Unser Kind fühlt sich wohl, das ist die Hauptsache. Hier wird es nicht auf dem Stuhl festgebunden beim Essen. Natürlich sind wir auch hier bemüht, daß unsere Kinder beim Essen sitzen, aber das klappt nicht immer. Neulich diskutierten wir Eltern einmal, während die Kinder aßen. Wir verloren die Kontrolle. Sie liefen plötzlich alle wild umher mit krümelnden Brotstücken in den Händen. Danach kritisierten einige, daß in jenem Moment die Eltern und nicht die Kinder im Mittelpunkt gestanden hätten.
„Groß war das Erschrecken der Väter in den Kinderläden, als sich herausstellte, daß die eigenen Kinder sich wieder zu einer privilegierten Minderheit mauserten, deren erste Absicht es ist, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, und sei es auf Kosten anderer. Daß sich gerade jenes Privileg besonders verstärkte, das ihn selbst von den arbeitenden Massen entfernt hielt: die Intelligenz. Das schlechte Gewissen läßt sich kaum beruhigen.
Der Zentralrat übernimmt die Organisation der Kinderläden, die sich fortan nicht mehr antiautoritär, sondern sozialistisch nennen. Die Erziehungsarbeit mit den eigenen Kindern hat selbst eine politische Dimension bekommen, die allerdings anfänglich nicht beabsichtigt war.
(...)
Einige Kinderläden gehen in die Arbeiterbezirke, andere nehmen Proletarierkinder auf.
Das antiautoritäre Konzept mußte neu diskutiert werden in Hinblick auf die strategische Bedeutung innerhalb der Gesamtstrategie der sozialistischen Bewegung. Zumal die Kinderläden in den Arbeitervierteln Modellcharakter für die Initiierung von Arbeiter-Kinderläden bekommen sollten. Die Einbeziehung der Kinder in den politischen Kampf sollte den rein psychoanalytischen Ansatz der antiautoritären Erziehung überwinden und schließlich in sozialistische Verhaltensweisen münden.“
Wir sind heute nicht mehr so optimistisch wie die Achtundsechziger. Wir fühlen uns, glaube ich, viel machtloser. Wir sagen nicht, daß wir unsere Kinder zu Revolutionären erziehen wollen, sondern wir wollen ihnen Überlebensstrategien vermitteln. Ein defensives Konzept also.
Das Problem, auch in unserem Kinderladen, ist, daß sich jeder eigentlich nur für das eigene Kind interessiert. Jeder sitzt auf seinem Kind. Das Kind, dessen Mutter oder Vater nicht da ist, behält die nassen Windeln an.
Unser Kila ist zwar mitten in Neukölln, in der Gruppe ist aber kein einziges türkisches Kind vertreten. Das ist leider typisch: Es gibt hier nur ein Nebeneinander der Kulturen, nicht ein Miteinander. Die Kinderläden sind keine Kraft dagegen.
Der Berliner Senat schreibt in seinem Ratgeber für die Elterninitiativkinderläden: „Das ideologisch bestimmte Arsenal von Ansprüchen wurde von den beteiligten Eltern rasch entrümpelt. Dogmen wurden von dem Bemühen überlagert, die alltäglichen Bedürfnisse der Kinder aufzugreifen. Der Grundsatz der Selbstorganisation und wesentliche Aspekte des Zusammenwirkens von Eltern überlebten die Studentenbewegung.“
Es ist zynisch: Der Senat fördert Kinderläden finanziell, weil sie für ihn billiger sind als Kindertagesstätten. Kindererziehung wird reprivatisiert. Politisch sind die „entrümpelten“ Kinderläden kein Gegner mehr. Zynismus herrscht auch im Kinderladen. Hier stehen Zahnbürsten und hängen Handtücher von Kindern herum, die es nur offiziell, aber nicht wirklich gibt. Der Laden kassiert vom Senat die Platzgelder für Kinder, die es gar nicht gibt. Offiziell hat der Laden dreizehn Kinder, in Wahrheit haben wir jedoch eine privilegierte Kindergruppe mit acht Kindern. Gelder werden heute ertrickst, nicht gefordert, wie von den Achtundsechzigern damals. Uns fehlt heute der Idealismus.
„Viele Genossen zogen sich in der Folge von der Erziehungsarbeit zurück. Auf Grund ihres fortgeschrittenen politischen Bewußtseins und der Arbeit am Hauptwiderspruch waren sie oft verhindert, die Nebenwidersprüche innerhalb der gesamten politischen Strategie zu lösen. Das Stillwerden der Senatspolitik, die abflauende Reaktion der Presse und die öffentlichen Reformprogramme taten ein übriges, ihnen die politische Brisanz des Erziehungssektors zu verschleiern.
Aus dem Scheitern der Zentralratspolitik (Zentralrat der sozialistischen Kinderläden) und ihrem Anspruch schlossen einige, Kinderladenarbeit und damit auch Arbeit im Sozialisationsbereich sei keine Ausgangsbasis revolutionärer Praxis und biete keinen Ansatz für den organisierten Kampf. Sie gingen in der Folge in die Betriebe, um den Aufbau einer proletarischen Partei zu organisieren.“
Günther Blüm
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