: Gesetze sind abstrakte Normen
■ betr.: „Wenn der Zoll den Zensor spielt“, taz vom 24.12.94
Zwar ist mir der Sachverhalt in seinen Einzelheiten zwangsläufig unbekannt; Tatsache aber ist:
– daß die Finanzverwaltung zur Überwachung einer großen Anzahl von Ein- beziehungsweise Ausfuhrverboten (Waffen, Sprengstoff, Pornographie, Markenpiraterie, Seuchenerreger, Tierschutz etc. pp) gesetzlich verpflichtet ist, ein- beziehungsweise ausgehende Sendungen zu kontrollieren. Das Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher [...] Verbringungsverbote ist nur eine Rechtsgrundlage unter vielen und hat die Überwachung unter anderem folgender Verbote zum Ziel: §§ 86, 86 a StGB (Kennzeichen, Propagandamittel verfassungswidriger Organe), §§ 90 a, 130, 131 StGB (Staatsverleumdung, Volksverhetzung, Aufstachelung zum Rassenhaß), § 184 (1), (5) StGB (Pornographie im postalischen Versandhandel beziehungsweise Kinder- Pornographie),
– daß die Finanzverwaltung ferner bei Bestehen eines Anfangsverdachtes ebenso verpflichtet ist, die Sendung an die Staatsanwaltschaft zu übergeben (hier normiert das Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher [...] Verbringungsverbote einen Sonderfall, da grundsätzlich die Finanzverwaltung gemäß § 372 Abgabenordnung die [strafrechtliche] Verfolgung und Ahndung übernimmt),
– daß alle Staatsanwaltschaften in bestimmte (Fach-)Abteilung gegliedert sind und es zudem Zentralstellen gibt, bei denen bestimmte Aufgaben konzentriert werden.
Was würde die taz schreiben, wenn ein Zöllner mit dem Argument, er wolle „nicht den Zensor spielen“, die „Auschwitz-Lüge“ von Thies Christophersen passieren ließe oder das neueste Lolita- Spezial-Heft? Richtig: Es würde ein großes Kennt-der-Zoll-seine- Aufgaben-Gejammer einsetzen ...
Nun ist ein lockerer Ton in den Artikeln oder das Äußern einer bestimmten Vermutung grundsätzlich nicht zu beanstanden; unangenehm wird es aber regelmäßig dann, wenn die Formulierungen um so unbestimmter (und markiger) werden, je weniger Grundkenntnisse vorhanden sind.
Es gibt freilich eine ganze Menge an antiquierten und unverständlichen Rechtsnormen. Sie alle sind aber von allen staatlichen Stellen anzuwenden, solange sie Bestand haben; eine freie Entscheidungsfindung in dieser Sache darf es nicht geben. Die Reizbegriffe, die dem Artikel seinen Platz auf der Titelseite gesichert haben (Zensor, Staatsschutzabteilung), werden ihre Wirkung bei den Teilen der Leserschaft, die weder Zollbeamte noch Juristen sind, nicht verfehlen. Ein staatliches Komplott gegen Linke! Noch jedoch wurde nichts zensiert und niemand verurteilt; es wurden schlicht Normen angewandt, die sich das Gemeinwesen aus bestimmten Gründen gegeben hat. Ein Anfangsverdacht läßt sich entkräften, ein Verfahren einstellen.
Gesetze sind abstrakte Normen, die – sofern sie nicht ausdrücklich durch ihren Wortlaut auf bestimmte Fälle beschränkt sind – auf alle Lebenssachverhalte gleichermaßen anzuwenden sind. Das ist vielfach offenbar nicht leicht zu begreifen. Olaf Ziemßen, Hamburg
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