„Eine Lehre für andere Regionen“

■ Juri Affanassjew verficht die These, daß der Krieg vor allem im Interesse des militärisch- industriellen Komplexes liegt. Die Ruhe des Westens sieht er als Katastrophe.

Der Historiker Juri Nikolajewitsch Affanassjew, 60, hatte gegen Ende der Ära Gorbatschow gemeinsam mit Andrej Sacharow und Boris Jelzin den Co-Vorsitz der „Überregionalen Deputiertengruppe“ inne, der ersten parlamentarischen Opposition in der Sowjetgeschichte. Seit 1991 zog er sich zunehmend aus der politischen Öffentlichkeit zurück und konzentrierte sich auf sein Amt als Rektor der Russischen Staatlichen Humanitären Universität. Er sitzt außerdem im Vorstand der Gesellschaft „Memorial“. In der neuesten Nummer der „Moscow News“ erhob Affanassjew jetzt nach langer Zeit wieder seine Stimme. Unter der Überschrift „Aggression ist eine ökonomische Kategorie“ weist er auf den Zusammenhang zwischen dem Krieg in Tschetschenien und dem „Jahrhundertdeal“ hin, den die aserbaidschanische Regierung in diesem Herbst mit einem internationalen, US-dominierten Konsortium zur Nutzung ihrer Ölreserven im Kaspischen Meer abgeschlossen hat. Affanassjews These: Der Krieg wurde vom Zaun gebrochen, um den Verlauf der Pipelines aus Aserbaidschan in den Westen über das Territorium der Russischen Föderation zu sichern.

taz: Alternativen zu dem Pipeline-Verlauf durch Tschetschenien hätten Linien über Armenien, über den Iran und die Türkei gebildet. Warum war die russische Regierung dagegen?

Juri Affanassjew: Erstens hätte man dort Pipelines erst bauen müssen – in Tschetschenien braucht man nur die Hähne wieder aufzudrehen, sobald das Land „gezähmt“ ist. Zweitens kann Rußland bei einem solchen Verlauf jederzeit politischen Druck auf Aserbaidschan ausüben.

Sie schreiben, daß die nach wie vor militarisierte russische Wirtschaft sich noch andere Demonstrationsobjekte für ihre „Kraft“ suchen wird.

Schon jetzt versuchen sie, zu ihren Gunsten das Budget zu sprengen. Die Steuern, die dafür nötig sind, wird man anders als mit Gewalt aus den russischen Regionen nicht herauspressen können. Die Vertreter dieser veralteten Wirtschaftsunternehmen versuchen jetzt mit Hilfe der Exekutive ihren Einfluß zu wahren. Gestern hat Innenminister Jerin im Fernsehen selbst gesagt, daß Tschetschenien für andere Regionen der Föderation eine Lehre sein sollte.

Besteht da eine Verbindung zur zunehmenden Mafiaherrschaft in Rußland?

Es geht nicht nur um die Finanzierung, sondern auch um Rohstofflieferungen. Auch der Absatz veralteter und von niemandem benötigter Waren muß mit Gewalt erpreßt werden. Und die Fabriken des militärischen Komplexes wären heute gar nicht mehr in der Lage, die von ihnen benötigten Rohstoffe zu bezahlen. Man muß sie ihnen auf einem Tablett darreichen. Nach wie vor ist bei uns die Hälfte der Wirtschaft eine Schattenwirtschaft.

Sie schreiben in Ihrem Artikel, es bestehe eine „Brücke“ zwischen Tschetschenien und der internationalen russischen Diplomatie. Glauben Sie, daß das Schweigen der USA zu den Geschehnissen in Tschetschenien vom ökonomischen Interesse amerikanischer Firmen diktiert ist?

Darüber weiß ich zu wenig. Das Schweigen der USA bdeutet bestimmt: „Na gut, wir haben nun mal unsere Einflußzone und Ihr habt Eure.“ Überschneidungen gibt es da nur in Mittelosteuropa und im Baltikum. Was aber die Kaukasus-Region betrifft, so hat der Westen offenbar beschlossen, dort nicht so genau hinzugucken.

Kann man davon reden, daß sich da zwei Imperialismen in bezug auf ihre Grenzen arrangieren?

Für mich ist die Ruhe des Westens angesichts der heutigen Vorgänge hier völlig unerträglich. Die hemmungslose Entfaltung von Gewalttätigkeit stellt möglicherweise den ersten Schritt zu Ereignissen dar, wie sie die Welt seit langem nicht gesehen hat. Wenn der Westen zu Tschetschenien weiter schweigt, verändert das die Norm des Zulässigen in der ganzen Welt. Interview: Barbara Kerneck