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Wahlkampfauftakt am Neujahrstag

■ Diepgen dankt Polizei für Einsatz in 1994 / Ruhiges Silvester: Kreuzberger Minirandale, Avnet-Tafel abgebrannt

Die Silvesterbilanz von Feuerwehr und Polizei wurde gestern von einem überraschenden Besuch des Regierenden Bürgermeisters bei der Polizeidirektion 3 in der Kruppstraße überschattet. Weil ein von sieben Abschiebehäftlingen am Silvesterabend geplanter, schließlich aber durch den Hinweis eines anderen Häftlings vereitelter Fluchtversuch offenbar negative Schlagzeilen gebracht hätte, setzte der Regierende zum Wahlkampfauftakt 1995 auf „positive News“. Eberhard Diepgen (CDU) dankte den 32.000 Polizeimannen der Haupstadt für ihre Dienste im vergangenen Jahr und wehrte sich vehement gegen den Titel „Hauptstadt der Kriminalität“. Diepgen verwies auf die gestiegene Aufklärungsquote der Polizei und forderte die Berliner auf, bei Straftaten „hin- statt wegzusehen“. „Wir wollen eine Metropole werden“, sagte Frühaufsteher Diepgen, „ohne aber jeden negativen Aspekt einer solchen zu übernehmen.“

Ebenso erfreut bilanzierte Polizeipräsident Hagen Saberschinsky über die Silvesternacht. Mit exakt 2.212 Funkwageneinsätzen sei die Nacht auf Neujahr noch unter dem Schnitt des vergangenen Jahres gewesen, in dem die Streifenwagen täglich zwischen 2.500 und 2.600 Einsätze zu fahren gehabt hätten. Ganz generell freute sich Saberschinsky, daß es gelungen sei, aus „zwei Polizeien eine zu machen“, vergaß aber nicht auf die „Besonderheit“ der „geographischen Nähe zu Osteuropa“ zu verweisen, auf die man sich einstellen müsse.

Weniger der Osten Europas als vielmehr die China-Kracher aus dem fernen Osten machten Saberschinskys Mannen an Silvester Probleme. Bereits vor dem Jahreswechsel hatte die Polizei 15 Tonnen Feuerwerkskörper wegen „nicht ordnungsgemäßer Lagerung“ beschlagnahmt. Nur noch 1.000 Tonnen Kracher und Raketen konnten folglich Silvester in die Luft gejagt werden. Die größte Feier gab es dabei am Brandenburger Tor, wo sich rund 1.000 Berliner versammelt hatten. Weit weniger waren es heuer in Kreuzberg bei der traditionellen Neujahrsansprache der autonomen Szene. Nur drei Dutzend Jugendliche, die Böller und Flaschen auf die Polizei geworfen und Bauwagen umgestürzt hätten, zählte die Nachrichtenagentur ADN in der Adalbertstraße. Insgesamt wurden nach Angaben der Polizei bei Schlägereien und Streitigkeiten 74 Personen verletzt, 16 weitere durch Feuerwerkskörper. Vor einem Jahr wurden 400 Personen verletzt.

Kontrollierter Aktivismus auch bei den Feuerengeln. Die Feuerwehr mußte an Silvester rund 700mal ausrücken. Besonders traurig: Berlin ist um eine Attraktion ärmer. Die „Avnet“-Multimedia-Anzeigentafel am Ku'damm- Eck fiel den Flammen zum Opfer. Trotz nahe gelegener Löschwasservorräte konnten auch sieben Sportboote auf einer Bootswerft an der Heerstraße nicht vor dem Flammentod gerettet werden. Sachschaden: eine Million Mark. Dennoch sprach auch die Feuerwehr von einer „verhältnismäßig ruhigen Silvesternacht“. Schwere Brände, sagte ein Sprecher, mußten nicht bekämpft werden. Es gab jedoch zahlreiche Brände auf Balkonen, bei denen „dort gelagerte Gegenstände durch Feuerwerkskörper in Brand“ gesetzt worden seien. In der Linienstraße 130 in Mitte brannten zudem mehrere Keller aus, eine Person erlitt eine Rauchvergiftung. In der Schöneberger Monumentenstraße brannte eine Wohnung aus.

Insgesamt waren in der Silvesternacht 904 Feuerwehrleute sowie rund 4.000 Polizeibeamte im Einsatz. Der von der Polizei bereits im Vorfeld angekündigte Großeinsatz gegen die Alkoholsünder erwies sich freilich als Sturm im Schnapsglas. Den „mehreren hundert“ Beamten gingen nur zwölf Sünder samt ihren Lappen ins Netz. Uwe Rada

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