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Hopfen und Malz verloren

Seit tausend Tagen ist Sarajevo belagert. Doch in der Stadt werden weiterhin Zigaretten, Schuhe und Bier produziert. Die Arbeit ist kriegswirtschaftlich organisiert, der Lohn symbolisch  ■ Aus Sarajevo Thomas Schmid

Ferid Pašović erinnert sich noch genau, wie alles angefangen hat. Als der Krieg in Sarajevo losging, hatten die Serben ihre Stellungen in den Bergen längst ausgebaut. Im April 1992 rückten sie dann auf die bosnische Hauptstadt vor, doch überall stießen sie auf Widerstand. Pašović stellte sich ihnen mit 20 Arbeitern aus der Brauerei entgegen. Die ersten zwei Wochen des Krieges schob er selbst Wache auf dem jüdischen Friedhof, der heute, von Schützengräben durchzogen, durch die Frontlinie geteilt ist.

Vom Kovačići-Friedhof mit seinen einmaligen alten Grabsteinen in Form sitzender Löwen zur Sarajevska Pivara, der Bierbrauerei am Rande der Altstadt, sind es nur wenige hundert Meter. 120 Geschosse schwerer Artillerie sind in das Fabrikgebäude aus rotem Ziegelstein eingeschlagen. Doch der älteste Industriebetrieb Bosnien-Herzegowinas, 1864 vom Wiener Heinrich Levy gegründet, sieht noch immer so aus wie auf dem großen Gemälde aus der Jahrhundertwende, das über dem mächtigen Schreibtisch von Direktor Pašović hängt. Damals war die Sarajevska Pivara die größte Bierbrauerei Österreich-Ungarns.

Doch nach dem Zerfall der Habsburger Doppelmonarchie ging es auch mit der Brauerei bergab. „Ja, die Serben waren damals wie heute“, meint Pašović. Nach der Errichtung der Königsdiktatur hätten sie die Fabrik einfach requiriert. Entschädigung habe es keine gegeben. Dafür wurde das Etikett gewechselt. Statt des Wappens des bosnischen Königs Tvrtko wurde das Wappen seiner Majestät König Alexander I., eines Serben, auf die Flaschen geklebt und aus Sarajevsko Pivo wurde Dvorsko Pivo, Hofbier.

Die Geschichte des Bieres von Sarajevo spiegelt sich auch in einem großflächigen Diagramm wider, das eine Wand des Büros von Ferid Pašović ziert und den Produktionsausstoß von 1894 bis 1994 darstellt. Daß erst 1964 wieder das Niveau von 1916 erreicht wurde, lastet der Direktor dem serbischen Mißmanagement an. Richtig bergauf ging es ab 1984, als Pašović Direktor wurde. Innerhalb von sieben Jahren wurde die Produktionsmenge von 289.000 Hektolitern – ein Hektoliter entspricht einem Faß von hundert Litern – auf 783.000 Hektoliter erhöht.

Die Vorräte gehen schon wieder zur Neige

Doch dann kam der Krieg. Und die Produktion sank von 180 Millionen Flaschen im Jahr 1991 auf ein Rekordtief von 5,5 Millionen Flaschen 1993. Im gerade zu Ende gegangenen Jahr ist der Ausstoß nur unwesentlich angestiegen. „Was wir früher an einem Tag produzierten“, resümiert der Direktor, „schaffen wir jetzt in einem Monat.“ Die von Granaten zerstörte Kompressionsanlage und die Flaschenabfüllungsanlage sind längst wieder repariert. Aber es fehlt an Malz und Hopfen. Zwar waren bei Kriegsausbruch noch 15.000 Tonnen Malz auf Lager – doch leider in Rogatica, und das liegt schon im serbisch besetzten Gebiet. So lebte man von den Reserven in Sarajevo, die dann im vergangenen Mai, Juni und Juli, als die Straßen in die bosnische Hauptstadt offen waren, aufgestockt wurden. Doch nun gehen die Vorräte schon wieder zur Neige.

Nur vom essentiellsten Bestandteil des Bieres ist genug da. Die Brauerei wurde im letzten Jahrhundert sinnvollerweise da gebaut, wo schon ein Brunnen stand. Oft gab es in den letzten drei Jahren in Sarajevo monatelang kein Wasser außer in der Brauerei. In den schlimmsten Zeiten kamen bis zu 30.000 Personen täglich mit ihren Eimern und Kanistern zu den Zapfstellen der Fabrik – auch, nachdem am 15. Januar 1993 eine Granate in die Reihe der Wartenden einschlug und acht Menschen tötete. Was blieb den Leuten schon anderes übrig?

Die Toten im Innenhof der Brauerei, wo auch heute noch täglich Zisternenwagen der UNO vorfahren, um Wasser zu tanken, hat Pašović auf einem Videoband festgehalten. „Schaum der Zeit“, ist der Film betitelt, der mit dem Bild eines vollen Bierglases beginnt – zwei Fingerbreit Schaum, wie es sich für ein frischgezapftes Bier gehört. Pašović ist im übrigen Muslim, aber dem Bier durchaus nicht abhold. „Nur gläubige Muslime sollten kein Bier trinken“, findet er, „aber ich bin trotzdem kein schlechter Muslim.“

An der Front ist Bier selbstredend verboten. Zigaretten hingegen gibt es dort umsonst. „Drina“ mit Filter und „Sarajevo“ ohne. Ihre Herstellung gehört sogar zur kriegswichtigen Produktion. Die Tabakfabrik Duhana beliefert die Armee kostenlos. Das Verteidigungsministerium hat vertraglich zugesichert, nach dem Krieg für Ausgleichszahlungen aufzukommen. Kriegswichtige Produktion – das heißt Arbeitsverpflichtung. Die Militärbehörden stellen die entsprechenden Papiere aus. Wer bei Duhana arbeitet, ist vom eigentlichen Militärdienst, dem Dienst an der Front, zu dem alle wehrfähigen Männer zwischen 18 und 60 Jahren herangezogen werden können, befreit.

Gearbeitet wird an sechs Tagen acht Stunden, und für diese 48-Stunden-Woche winkt ein monatlicher Lohn von 100 bosnischen Dinar, das ist umgerechnet gerade eine deutsche Mark und reicht nicht einmal für eine Schachtel Streichhölzer. Es ist ein symbolischer Lohn, zumal die Preise in Sarajevo für die meisten Artikel etwa doppelt so hoch liegen wie in Deutschland. Doch gibt es in der Kantine täglich ein warmes Essen umsonst, und die Beschäftigten des Betriebs erhalten zudem noch einen Lohn in Naturalien ausbezahlt – etwa 20 Kilogramm Lebensmittel pro Monat.

Granatsplitter, säuberlich geputzt, sind ausgestellt

Nein, Tote habe es in der Fabrik zum Glück nicht gegeben, sagt Senada, aber einige Arbeiter seien auf dem Weg zur Fabrik von Heckenschützen verletzt worden. Die Chefsekretärin spricht fließend deutsch. Sie hat 16 Monate in Bonn verbracht, wo ihr 15jähriger Sohn sechsmal operiert wurde. Er war auf dem Spielplatz von einer Granate getroffen worden. Heute lebt er in Island, in einer Kleinstadt nördlich von Reykjavik. Wann je wird sie ihn wiedersehen? Für ihre Unterkunft in Bonn hatte im übrigen die private deutsche Hilfsorganisation „Den Krieg überleben“ gesorgt.

Auch die Duhana wurde im Krieg stark beschädigt. Sefik Lojo, Direktor der Fabrik und Nichtraucher, hat gut zwei Dutzend großer Granatsplitter, säuberlich geputzt, in einem Regal seines Büros ausgestellt. Kesselraum und Klimaanlage sind zerstört worden, und gearbeitet wird nun aus Sicherheitsgründen nur noch im Keller. Vor dem Krieg wurden monatlich 400 Millionen Zigaretten hergestellt, heute sind es immer noch 100 Millionen. Natürlich gebe es Probleme mit den Rohstoffen, räumt Lojo ein, aber man habe vor Ausbruch der Kämpfe noch rechtzeitig die Lagerbestände aufgefüllt, und was fehlt – Filter, Klebstoff – „kommt durch den Tunnel“. Im Herbst 1993 stellte die Armee einen etwas über einen Kilometer langen Tunnel fertig, der vom Stadtteil Dobrinja unter serbisch besetztem Gebiet und unter dem Flughafen von Sarajevo hindurch zum Berg Igman führt, der von den bosnischen Truppen kontrolliert wird. Der Tunnel ist zu einer Lebensader der belagerten Stadt geworden. Er dient vor allem dem Waffennachschub, aber auch Rohstoffe für kriegswichtige Produktion und allerlei Lebensmittel gelangen auf diesem Weg nach Sarajevo. Und wer eine Sondergenehmigung hat, kann die Stadt durch den Tunnel verlassen und auf der andern Seite nachts über den oft unter serbischem Feuer liegenden Berg zur Straße hinuntersteigen, die zur dalmatischen Küste führt.

Von ursprünglich über 900 Beschäftigten arbeiten heute nur noch etwa 300 in der Tabakfabrik. Etwa hundert sind aus Sarajevo geflohen. Über 300 wurden in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Doch für die bezahlt die Armee nun wenigstens die Sozialabgaben weiter. Und etwa 200 Serben aus seinem Betrieb seien bei Kriegsausbruch auf die andere Seite gegangen, zu den Truppen Karadžićs, berichtet Lojo. So richtig will das dem Direktor, einem Muslim, nicht in den Kopf. „Die haben doch mit uns gelebt, mit uns gearbeitet, und jetzt beschießen sie ihre alte Fabrik, ihre alten Kollegen.“

Auch Sulejman Kukavica hat in seinem Büro Granatsplitter ausgestellt. Von der Baščaršija, dem Hauptplatz des alten muslimischen Marktviertels, führt eine Straße an zwei Moscheen und zwei Friedhöfen mit immer neuen Gräbern vorbei hinauf zu seiner Fabrik, der Obuce, die Schuhe herstellt. Sie liegt an einem Berghang und ist der serbischen Artillerie, die von der gegenüberliegenden Gebirgskette her über die Stadt hinwegschießt, ziemlich schutzlos ausgeliefert. So arbeiten die Frauen – Männer sind hier fast nur in der Leitungsetage anzutreffen – in der Garderobe, die unter der Erde liegt, und im Schutzkeller. Ventilation gibt es keine. Der Geruch frischen Schuhleimes ist dem Besucher ausgesprochen angenehm, doch der Gesundheit der Arbeiterinnen auf die Dauer gewiß abträglich. Auf engstem Raum kleben und pressen und schneidern und nähen hier 250 Frauen hinter alten „Pfaff“-Maschinen. Das Unterehmen aus Kaiserslautern sowie zwei weitere deutsche Firmen – Schoen und Moenus, beide in Pirmasens ansäßig – haben der bosnischen Schuhfabrik mit gebrauchten Nähmaschinen und anderen Gerätschaften ausgeholfen.

Vor den Kämpfen produzierte die Obuce zu 95 Prozent für den Export, davon gingen zwei Drittel an den Westen und ein Drittel nach Osteuropa. „Der Krieg traf uns völlig unvorbereitet“, gesteht Kukavica, „wir haben ja Jahrhunderte zusammengelebt, und nur Dichter und Ärzte konnten auf die Idee verfallen, uns nach Religionen aufzuteilen und auseinanderzudividieren.“ Radovan Karadžić, der Führer der bosnischen Serben, dessen Namen dem Fabrikdirektor nicht über die Lippen geht, ist Psychiater und hat pathetisch- schwülstige Gedichte für Kinder verfaßt. Ja, und nun wird eben zu 100 Prozent für den Eigenbedarf produziert. Das Rohmaterial liefert das International Rescue Commitee, eine regierungsunabhängige US-amerikanische Hilfsorganisation, die die fertigen Schuhe dann nach ihren eigenen Kriterien an die Bedürftigsten verteilt. In Spitzenzeiten stellten die Frauen früher über 15.000 Paar Schuhe im Monat her.

Auch bei Obuce erhalten die Arbeiterinnen nicht mehr als umgerechnet zwei Mark im Monat. „Hier arbeitet niemand wegen des Geldes“, erläutert Kukavica, „es geht den Arbeitern darum, ihren Beitrag für die Verteidigung Sarajevos und Bosnien-Herzegowinas zu leisten.“ Der Direktor, „ein Denkmal“, wie er sich selbst bezeichnet, arbeitet schon seit 35 Jahren im Betrieb – zunächst war er Arbeiter, dann Meister, seit 1978 Chef – und glaubt seine Leute zu kennen. Sie hätten im wesentlichen drei Wünsche, meint der Direktor: Erstens am Leben bleiben, zweitens das Überleben des angegriffenen Staates retten, drittens ihre Arbeitsstelle erhalten. „Empfehlen Sie Ihren Lesern“, bittet der Direktor zum Abschied, „Material heranzuschaffen, nicht fertige Schuhe. Wir brauchen Material. Die Fabrik muß laufen. Wenn eine Fabrik nicht mehr arbeitet, ist es, als ob ein Organ im Menschen stillstünde.“

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