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Die zweite Hiroshima-Story

■ Bleibt die Botschaft von Hiroshima auch nach dem Gedenkjahr 1995 erhalten? fragt anläßlich der Neujahrsnacht, die in Japan die Nacht des Vergessens ist

Die zweite Hiroshima-Story

Indiens Nehru und sogar der Papst reisten früher nach Hiroshima. Das war im Kalten Krieg. Einmal im Jahr, am 6. August, schaute die Welt auf diese Stadt, und viele Menschen überlief jedesmal ein Schauer, wenn sie die Bilder der Hibakusha, der Atombombenopfer, sahen. Schließlich hätte es sie im Krieg der Supermächte genauso treffen können. Alle Menschen waren Hibakusha – das wohl vertrauteste japanische Wort in aller Welt.

1995 hat sich das ganz offenbar geändert. Und Hiroshima steht nicht gut da. Der Stadt fehlt eine neue Botschaft gerade jetzt, wo es darauf ankommt: Denn zum 50. Gedenktag des ersten Atombombenabwurfs der Geschichte werden in diesem August alle, denen diese Stadt einst der Inbegriff von Welthistorie war, noch einmal nach Hiroshima kommen. Vielleicht das letzte Mal? Hiroshima revisited, werden die Blätter in aller Welt schreiben, und weil sie die Geschichte der Atombombenopfer längst nicht mehr interessiert, da es in Bosnien und Algerien derzeit doch viel häßlichere und mediengerechtere Opfer gibt und offenbar nur noch wenige Angst vor dem Atomkrieg haben, werden sie nach der zweiten Hiroshima-Story suchen, für die es im Kalten Krieg noch zu früh war.

Das aber ist die Geschichte einer gewöhnlichen japanischen Stadt, die wie jede andere ihre eigene kriegerische Vergangenheit verdrängte und sich nach dem Krieg im Märtyrertum sonnte. Hiroshima, „Stadt des Friedens“ – über diesen erst mit der Atombombe erworbenen Namen, den man früher in West und Ost ehrfürchtig zitierte, könnte die Welt in diesem Jahr noch allerhand zu spotten wissen: Was wissen denn schon die Bürger von Hiroshima nach fünfzig Jahren über ihren Krieg? Haben Sie nicht erst im letzten Sommer ihr Atombombenmuseum so hastig umgeräumt, daß es nach einer Alibi-Veranstaltung roch, damit nun auch ein wenig von den japanischen Greueltaten während des Zweiten Weltkriegs die Rede ist? Und überhaupt: Stellen sich nicht 50 Jahre nach Hiroshima für Japan die viel drängenderen Fragen nach den oftmals verleugneten Kriegsverbrechen?

Wer die Erklärung für die zweite Hiroshima-Story sucht, kommt freilich am 6. August zu spät. Denn sie offenbarte sich wie jedes Jahr seit 1945 in der Neujahrsnacht. Die Jahreswende ist der Zeitpunkt, wo die Japaner das Vergessen und Verdrängen einstudieren – mit einer Art kollektiver Wiedergeburt in der Masse.

In den ersten Stunden des neuen Jahres beobachtet man denn auch in Hiroshima das allerdings nicht erst seit dem Krieg, sondern bereits seit Jahrhunderten Übliche: Zehntausende warten vor dem Gokoku-Schrein, nur einen Kilometer vom Explosionszentrum der ersten Atombombe entfernt, um vor dem lokalen Naturgott des Shintoismus ihr Neujahrsgebet zu sprechen. Vor dem Schreingott schwören sie, die schlechten Gedanken und Taten des Vorjahres zu vergessen, und beginnen das neue Jahr sorgenfrei mit dem Griff in die Horoskop- Kiste der Schreindiener.

„Wir werfen das alte Jahr weg, damit wir im Leben wieder zu Neuem und Gutem finden“, erklärt der 75jährige Schreinvorsteher Sukehisa Nakashima Sinn und Zweck des von Shintoisten und Buddhisten gleichermaßen gefeierten Neujahrsfests. Natürlich erinnert sich der Alte noch an das erste Neujahrsfest nach der Atombombe. Der Gokoku-Schrein war damals völlig zerstört: „Wir errichteten überall kleine, notdürftige Gestelle für die Opfergaben.“ Nakashima ist bis heute überzeugt, daß keine andere Neujahrsnacht je wichtiger war: „Weil wir den Krieg und die Bombe vergessen konnten und die Kraft für den Wiederaufbau fanden.“

Der Priester läßt dabei ungesagt, daß beim Neujahrsfest von 1946 der japanische Kaiser, bis heute oberster Priester des Shintoismus, seiner Göttlichkeit entsagen mußte. Doch besonders die Priester der Kriegsschreine, in denen die gefallenen japanischen Soldaten als Halbgötter angebetet werden, halten oft bis heute an ihrem strengen Kaiserglauben fest. Der Gokoku-Schrein in Hiroshima, der bei diesem Neujahrsfest über eine halbe Million Besucher erwartete, zählt ebenfalls zu diesen Kriegsschreinen. Nakashima berichtet von allerlei Kriegsausrüstungen, die sein Schrein zum Gedenken an die Soldaten weiterhin aufbewahrt. Dabei bedauert er ausdrücklich, daß sich diese Gegenstände nicht mehr würdevoll ausstellen lassen, weil sie aufgrund der Atomexplosion Deformierungen erlitten.

Tatsächlich aber wissen heute nur wenige Besucher der Schreine noch etwas von den religiös-ideologischen Hintergedanken shintoistischer Einrichtungen. Außerdem halten Shinto-Priester keine Predigten, und für die meisten Neujahrsgäste bleibt der Schreinbesuch der einzige im Jahr.

Dennoch zeugt die Art und Weise der Vergangenheitsbewältigung in Japan ganz deutlich vom Einfluß alter, shintoistischer Denktraditionen. Sie machen deutlich, weshalb man eine Erklärung für Krieg und Bombe in Hiroshima so lange Zeit nicht benötigte. So gehört es zum shintoistischen Geschichtsverständnis, mit jedem neuen Kaiser ein neues Zeitalter heraufzubeschwören, das mit dem vorigen nichts gemeinsam hat. Noch heute wird die Jahreszahl in Japan nach der abgelaufenen Amtszeit des Kaisers bestimmt: Gestern begann das Jahr 7 der Heisei-Ära von Tenno Akihito. Auch dabei geht es ums leichtere Vergessen. Im Rückblick nach 50 Jahren begnügen sich deshalb die meisten Japaner damit, in der Nachkriegszeit eine neue Epoche zu sehen. Die Frage nach dem Warum von Krieg und Atombombe wurde in dieser Zeit nicht einmal in Hiroshima ernsthaft gestellt. „Laßt alle Seelen hier in Frieden ruhen, denn wir werden den Fehler nicht wiederholen“, lautet die Inschrift auf dem Denkmal für die Atombombenopfer im Friedenspark in Hiroshima. Damit ist der Blick pragmatisch in die Zukunft gerichtet: Der Fehler der Atombombe darf nicht wieder geschehen. Doch gleichzeitig soll die Vergangenheit nicht unnötig aufgewühlt werden. Auch die Soldaten der kaiserlichen Armee, die unter der Atombombe starben, dürfen in Frieden ruhen.

„Die Japaner erkennen pragmatisch an, daß der Krieg ein Fehler war“, schrieb Rafael Steinberg, Nachkriegskorrespondent von Time und Newsweek, in seinem Buch „Postskript aus Hiroshima“. „Aber es ist nutzlos und frustrierend, ihnen Pearl Habour vorzuhalten, wenn von Hiroshima die Rede ist. Weil sie selbst ihren Fehler eingestehen, verlangen sie es auch von uns. Moralische Absolutheiten machen für die Japaner keinen Sinn.“

So läßt sich für unseren Sprachgebrauch vielleicht am besten verstehen, weshalb die Bürger von Hiroshima die zweite Geschichte ihrer Stadt über die eigene Kriegsverantwortung – Hiroshima war damals ein großer Marinehafen – nur selten erzählt haben. Wenn freilich im 50. Gedenkjahr andere kommen, um diese Geschichte niederzuschreiben, entsteht dabei rasch ein ganz neues Hiroshima- Bild: Weil es ihm an historischen Erklärungen und japanischer Selbstkritik fehlte, entdeckte der holländische Autor Ian Buruma in seinem neuen Buch „Erbschaft der Schuld“ gar einen „Hiroshimakult“, die Stadt und ihr Friedenspark seien zu einem „regelrechten Lourdes“ für japanische Pazifisten geworden.

Die Stadt so zu beschreiben, hieße auch den shintoistischen Neujahrsbrauch der Japaner für bare Münze zu halten und nun anzunehmen, eine halbe Million Einwohner von Hiroshima hätten gestern irgendwie ihren Respekt vor soldatischen Halbgöttern kundgetan. Die Überinterpretation japanischer Heldentaten und Verbrechen hat im Westen eine lange Tradition. Schade wäre es, wenn 1995 die bislang noch über den Kalten Krieg hinaus erhaltende Botschaft von Hiroshima verwischte: „Das wichtigste bleibt die Tatsache, daß aufgrund unserer Erfahrung mit der Bombe in 50 Jahren niemand mehr eine Atombombe gezündet hat“, formuliert Wataru Imanaka, Chefredakteur von Chugoku Shimbun, der größten Zeitung in Hiroshima. Diese Aussage hat zweifellos auch ohne Schuldeingeständnisse ihren Wert.

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