: Der Ruf nach Gerechtigkeit in Haiti
Die Regierung hat die Bildung einer „Wahrheitskommission“ angekündigt, die die Menschenrechtsverletzungen seit dem Duvalier-Regime untersuchen soll ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard
„Jistis pou viktim kou deta“, Gerechtigkeit für die Opfer des Staatsstreiches, lautet eine Forderung, die überall in Haiti zu hören ist. In der Hauptstadt Port-au- Prince ist sie an die Wände gesprüht; die Bauernorganisationen im Zentralplateau schreiben sie genauso auf ihr Banner wie die linken Zeitungen und konservative Geistliche.
Nachdem sich der Jubel über den Abgang der Militärs und die Rückkehr von Präsident Jean-Bertrand Aristide gelegt hat, verspricht die gerichtliche Aufarbeitung der Diktatur zu einem zentralen Thema zu werden. Denn ohne Gerechtigkeit, so sind sich hier fast alle einig, gibt es keine Versöhnung, wie sie Aristide vom ersten Tag an propagiert hat. Daß er im Namen der Versöhnung Personen in sein Kabinett aufgenommen hat, die mit dem Militärregime kollaboriert haben, wird genauso argwöhnisch registriert wie die Leichtigkeit, mit der sich – vor allem in der Provinz – ehemalige Schergen der Diktatur in Machtpositionen halten können: Die paramilitärischen Attachés laufen nach wie vor frei herum. Selbst Personen, die nach der US-Invasion bei strafbaren Handlungen erwischt wurden, werden nicht festgenommen – oder umgehend wieder freigelassen. So der Busfahrer von Mystère im Norden, der im Auftrag eines Armeeobristen sein Fahrzeug in eine demonstrierende Menge steuerte und elf Menschen zermalmte.
Zu Racheaktionen kam es bisher nicht
„Versöhnung ohne Gerechtigkeit gibt es nicht“, erklärt der niederländische Salesianerpater Wim Boksebeld, dessen Pfarrei St. Joseph in einem der ärmsten Viertel von Port-au-Prince liegt. Der Salesianerpater bezeichnet sich als Aristide-Gegner. Er findet es jedoch nicht richtig, daß im Namen der Versöhnung auf die Aburteilung der für die Repression verantwortlichen Militärs verzichtet wird.
Es gelte vor allem, Selbstjustiz zu vermeiden, versucht Robert Augustin, ein enger Berater von Justizminister Mallerbanche, zu beschwichtigen, obwohl bisher kein einziger Fall von blutiger Privatrache gegen die Handlanger des Militärregimes bekanntwurde. Der Rechtsweg müsse streng eingehalten werden, fordert Augustin.
Daß den etwa viertausend Todesopfern des Putschregimes, den Opfern von systematischen Vergewaltigungen, den ihres Landes beraubten Bauern auf diese Weise Gerechtigkeit zuteil wird, will keiner so recht glauben. Denn der Justizapparat wurde vom Putschregime gründlich korrumpiert. Friedensrichter, die es wagten, gegen die Willkür aufzubegehren, mußten damit rechnen, selbst in den Kerker zu wandern. Daher wurden nach Aristides Rückkehr alle unter dem Marionettenpräsidenten Emile Jonassaint eingesetzten Funktionäre ihres Amtes enthoben.
Das Justizministerium hat wie alle Institutionen mit tausend Schwierigkeiten zu kämpfen. So haben die Militärs alle Fahrzeuge, Computer und Schreibmaschinen davongeschleppt. Außerdam hat die Behörde mit einem Personalüberschuß zu kämpfen, weil jeder der zahlreichen Interimsminister seine Leute mit Posten versehen hat. Doch was an der Basis besonders beklagt wird, ist das Fehlen von deutlichen Signalen.
Warten auf ein politisches Signal der Regierung
Wenn von der Regierung ein Dekret käme, „das uns ermutigt, gegen die Peiniger vorzugehen, dann könnten wir endlich aktiv werden“, reklamiert ein Richter im äußersten Norden des Landes: „Da gibt es zum Beispiel den Fall eines Offiziers, der schwerer Menschenrechtsverletzungen angeklagt wird und noch immer im aktiven Dienst in der Kaserne von Grande Rivière sitzt. Solange ich keine Unterstützung von der Regierung habe, kann ich gegen den Mann nicht vorgehen, weil es keiner wagt, gegen ihn auszusagen“.
Aristide weiß, daß die Begeisterung über seine Rückkehr in Empörung umschlagen kann, wenn er die Zügel zu lange schleifen läßt. Deswegen wurde mittlerweile die Bildung einer sogenannten Wahrheitskommission angekündigt. Ihre Untersuchungen sollen sich nicht auf die Verbrechen der jüngsten Vergangenheit beschränken, sondern bis zum Beginn des Duvalier-Regimes im Jahre 1957 zurückreichen. Damit sollen keine alten Wunden wieder aufgerissen werden, wie Camille Chalmers, ein enger Berater Aristides, versichert: „Die Untersuchungen sollen die Verbindungen und die Kontinuität des Repressionsregimes der Duvaliers thematisieren und aufzeigen, wie dieses System sich an die neuen Gegebenheiten anpaßt. Ich glaube, nur so kann die Volksbewegung ihren Alptraum abschütteln und nicht nur Gerechtigkeit erleben, sondern auch die Mechanismen der Unterdrückung durchschauen und damit verhindern, daß sich die Geschichte wiederholt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen