: Die Gefangenen im Kaukasus
Bis heute ist die russische Intelligenzija auf dem „nationalen Auge“ blind, die Sezessionsbewegungen kamen für sie überraschend. Eine Erklärung bietet die russische Kaukasus-Literatur des 19. Jahrhunderts ■ Von Sonja Margolina
Bis 1989 gaben sich weder die sowjetischen Reformer um Gorbatschow noch die russische Intelligenzija über ein einfaches Faktum Rechenschaft: Das russische Reich war ebenso Kolonialmacht wie die auf seinen Ruinen errichtete Sowjetunion. War diese Ignoranz einfach Folge der Friede-Freude-Eierkuchen-Ideologie des sowjetischen Vielvölkertums? Oder wurde einfach eine fortdauernde Kumpanei der Moskauer und der national- ethnischen Nomenklaturen unterstellt, gab es eine auf zahllosen Banketten gewachsene Ahnung, man werde bei der Plünderung des Volkseigentums auch künftig als Komplizen vorgehen? Jedenfalls waren die Russen auf ihrem „nationalen Auge“ blind. Diese Blindheit hieß Internationalismus, der sich organisch mit unterschwelligem Rassismus und der Arroganz eines eingebildeten Europäertums verband. Die nationalen Bewegungen, die Sezessionen von Republiken hat die russische Intelligenz überrascht. Sie mußte entdecken, daß ihre mit dem Schwert eingeführte große Kultur von allen Völkern gehaßt wurde und daß es sich bei ihrem für selbstverständlich gehaltenen kulturellen Raum immer nur um erobertes, fremdes Land gehandelt hatte.
Daß diese Selbsttäuschung so lange gedauert hat, hat die russische Gesellschaft nicht zuletzt der russischen Literatur zu verdanken. Gerade der Kaukasus war jenes Gebiet, dessen geistige Erschließung besonders früh, in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, zusammen mit dem Wiederaufflammen der kaukasischen Kriege, begonnen hatte. Drei Umstände waren es, die den Kaukasus zum idealen Zufluchtsort poetischer Inspiration machten. Zum einen waren fast alle Dichter entweder aus dem Adel stammende Offiziere oder verkehrten doch mit Freunden, die bestens über die Lage in den Kampfgebieten informiert waren. Zum anderen stand die Dichtung jener Zeit unter Lord Byrons Stern, und der Kaukasus konnte leicht zur Metapher für das freiheitsliebende Griechenland werden, wo Byron bekanntlich im Befreiungskrieg gegen die Osmanen gefallen war. Daß Lord Byron immerhin für die Freiheit gekämpft hatte, manche russische Dichter indes die Unterwerfung der fremden Völker in ihren Werken ästhetisierten und somit rechtfertigten, stand nicht zur Diskussion. Und drittens war der Kaukasus mit seiner überwältigenden Natur und den wilden Bergstämmen das Gegenteil der russischen Monotonie und Sklaverei, Rousseausches Paradies und Ausland in einem – vielen russischen Dichtern waren Reisen ins Ausland verboten.
Ein bewegendes Zeugnis dieses Raubes an Bewegungsfreiheit hat Alexandr Puschkin in seiner „Reise nach Erzerum“ (1834) hinterlassen: „Arpatschaj! Rußlands Grenze! [...] Ich eilte zum Fluß mit einem ganz unbeschreiblichen Gefühl. Noch nie im Leben habe ich fremdes Land gesehen. Die Grenze hatte für mich etwas Geheimnisvolles; Reisen in fremde Länder waren von Kind an meine Sehnsucht [...] Es war mir aber noch nie gelungen, mich aus den Grenzen des riesengroßen Rußland herauszureißen. Mit frohem Mute ritt ich in den ersehnten Fluß hinein, und mein gutes Roß trug mich auf das türkische Ufer hinüber. Dieses Ufer war aber bereits erobert, und ich befand mich noch immer in Rußland.“ Kein Wunder also, daß die drei größten Schriftsteller – Alexandr Puschkin, Michail Lermontow und Leo Tolstoi – drei gleichnamige Werke mit dem Titel „Der Gefangene im Kaukasus“ verfaßten. Für die zwei erstgenannten, die noch in der byronischen Tradition standen, diente der Kaukasus als Zufluchtsort eines romantischen Helden, eines russischen Child Harold. Enttäuscht von der Leere der aristokratischen Salons, betrogen in der Liebe, macht der Held sich auf den Weg in den Kaukasus, um sich von den Fesseln einer stickigen Zivilisation zu befreien. Seine Sehnsucht nach Freiheit endet in der Gefangenschaft. Dennoch verliebt sich ein einheimisches Mädchen in ihn und ist bereit, mit ihm zu fliehen. Als anständiger Mensch verzichtet er auf ihre Liebe. Nachdem sie ihn gerettet hatte, ertränkt sich das Mädchen im Terek, jenem Fluß also, der Rußland von Tschetschenien trennt. Im Jahre 1821 schrieb Puschkin einen Epilog zu dieser romantischen Geschichte, in dem er den Doppeladler, die russischen Waffen und General Jermolow, den Helden des Befreiungskrieges gegen Napoleon, rühmt, der zur Unterwerfung des Kaukasus entsandt worden war.
Der 14jährige Michail Lermontow knüpfte 1824 an diese Geschichte an und schrieb seinen „Gefangenen im Kaukasus“, den er selbst als Nachahmung des Puschkinschen versteht. Kornett Lermontow – selbst „Gefangener“ im Kaukasus, der mit 27 Jahren einem Duell, nicht weit von Pjatigorsk, zum Opfer fiel – hatte zu diesem Topos eine engere Beziehung als der hoffnungslose Zivilist Puschkin. Lermontow war der Sänger des Kaukasus par excellence. Noch immer gibt es die Lermontow-Straße in Grosny, während die kulturelle Präsenz Rußlands in den meisten nationalen Autonomien schon getilgt ist. Als Offizier wurde er für seine Gedichte aus der Hauptstadt verbannt und kam an die kaukasische Front. In seinen bekanntesten Poemen wie „Dämon“ und „Mzyri“ behandelt er georgische und kaukasische Legenden, ihre Helden tragen ethnische Züge, auch wenn insgesamt der Kaukasus nur als romantischer Hintergrund für die Abenteuer eines einsamen Individuums fungiert, das den Kampf zwischen Gut und Böse in seiner Seele auszutragen hat. In seinem berühmtesten realistischen Roman „Der Held unserer Zeit“ ist der Kaukasus wichtigster Handlungsort: der Offizier Petschorin, ein egoistischer und selbstsüchtiger Adelssprößling, verführt die schöne Bella, Tochter eines tschetschenischen Fürsten. Bald wird er aber der Liebe dieses ungebildeten Mädchens überdrüssig und sucht nach einer Gelegenheit, es loszuwerden. Der Erzähler ist Maxim Maximowitsch, ein alter Offizier im Kaukasus, der sich in den Sitten der Tschetschenen gut auskennt. Für diesen einfachen Menschen sind die Besatzung und die Beziehungen zwischen den einheimischen Bergvölkern und den Russen naturgegeben. Er gehört zu den Kaukasiern, einer Menschengattung, die mit den unterworfenen Völkern zusammengewachsen sind und sich unter Tschetschenen besser zurechtfinden als in der Heimat. Mitleid und Verständnis für die Opfer dieses aussichtslosen Kampfes sind seine wichtigsten Züge. Selbst kein Eroberer, sondern eher Opfer der kaukasischen Zustände, ist Maxim Maximowitsch literarischer Vater einer späteren Generation von Kaukasiern, die seit den 1850er Jahren in der demokratischen Literatur aufzutauchen beginnen.
Puschkin wie Lermontow vollziehen in ihren reifen Jahren eine realistisch-psychologische Wende. In der „Reise nach Erzerum“, also in eine bereits eroberte türkische Stadt, beschäftigen Puschkin nun der Alltag des kaukasischen Krieges, die Mentalität und die Sitten der unterdrückten Völker. „Die Tscherkessen [ein den Tschetschenen verwandter Volksstamm – S.M.] hassen uns. [...] Die Freundschaft der ,friedlichen‘ Tscherkessen ist nicht verläßlich; sie sind stets bereit, ihren wilden Stammesgenossen Hilfe zu leisten. Ihr wild- ritterlicher Geist ist sichtbar im Schwinden. Sie überfallen höchst selten eine Kosakenabteilung, wenn sie nicht in der Überzahl sind, lassen sich niemals mit Infanterie ein und fliehen, wenn sie ein Geschütz sehen. Dafür werden sie niemals unterlassen, eine schwächere Abteilung oder einen Wehrlosen anzugreifen. Es gibt so gut wie kein Mittel, sie zu bändigen, solange man sie nicht entwaffnet hat, wie man es mit den Krimschen Tataren gemacht hat; doch ist die Entwaffnung infolge der unter ihnen ständig fortdauernden Erbfehden und des Gesetzes der Blutrache sehr schwer durchzuführen. Dolch und Säbel sind bei ihnen Körperglieder, und ein Kind lernt früher die Waffen zu gebrauchen als zu sprechen. Mord ist bei ihnen eine ganze gewöhnliche Geste. Sie schonen das Leben von Gefangenen in der Hoffnung auf Lösegeld, behandeln sie aber ganz unmenschlich. Neulich ergiff man einen ,friedlichen‘ Tscherkessen, der auf einen Kosaken geschossen hatte. Er sagte zu seiner Rechtfertigung, daß sein Gewehr zu lange geladen gewesen sei.“ Puschkin machte sich Gedanken darüber, wie man den unterworfenen Stämmen die Aufklärung bringen könnte. Er setzte auf die Folgen des Handels und christliche Missionsarbeit. Seine Ansichten unterschieden sich von den damals in Europa herrschenden Vorstellungen über das Verhältnis zu den kolonisierten Völkern allenfalls durch ihre Naivität. Die russische Macht hatte nie eine ökonomische Ausbeutung der unterworfenen Gebiete im Sinn. Ihr Ziel war es, die Grenze zu sichern und dem Einfluß der Türkei und Persiens vorzubeugen, die die muslimischen Bergvölker gegen Rußland aufhetzten. Puschkin war jedoch skeptisch hinsichtlich Rußlands Fähigkeit, die Aufklärung konsequent durchzuführen. Der „Einführung des Samowars“ und des Christentums stünden russische Kälte und Faulheit im Wege. Erstaunlicherweise ist „Die Reise nach Erzerum“ vom russischen Leser nicht als Reportage eines russischen Rudyard Kipling von der brutalen Unterwerfung der Bergvölker verstanden worden. Der Text ist zum Steinbruch für Zitate geworden, zum Zeugnis des Schicksals russischer Kultur unter den Bedingungen des Despotismus.
Mit Leo Tolstoi kommt eine andere Wahrnehmung des kaukasischen Krieges auf. Tolstoi zeigte schonungslos und ohne Skrupel das alltägliche Sterben im Krieg. Sein „Gefangener im Kaukasus“ (1872) ist kein romantischer Held, sondern ein einfacher Unteroffizier, für den der Krieg eine erschöpfende und sinnlose Arbeit ist. Von Tataren gefangen, wird er in einen Fußblock geschlossen und auf den Misthaufen geworfen. Die Tataren fordern für ihn Lösegeld, aber seine Mutter ist zu arm: Auf den Brief schreibt er eine falsche Heimatadresse und überlegt nun, wie er sich davonmachen kann. Keine leidenschaftliche Schönheit byronischen Formats – ein kleines tatarisches Mädchen, für das er lustige Puppen bastelt, verhilft ihm zur Flucht. Tolstoi empfindet Sympathie und Verständnis für beide Parteien, in deren sich bekriegende Gegner er in erster Linie einfache Menschen sieht. Er ist darüber hinaus ein guter Kenner der einheimischen Sitten und Gebräuche. Um die Jahrhundertwende kehrte er noch einmal zu diesem Thema zurück. 1904 erschien seine Erzählung „Chadschi- Murat“ über einen abtrünnigen Mitkämpfer des legendären Helden des Befreiungskampfes Schamil. Sie ist von einer tiefen Sympathie für den durch nationale Traditionen gefesselten und deshalb zum Tode verdammten Mann gekennzeichnet. Leo Tolstoi war in seinen späteren Jahren nicht nur Pazifist, er erkannte das bedingungslose Recht religiöser Minderheiten und Ethnien auf ihr Anderssein an. Kein Zufall freilich, daß es eine Beschreibung der Verwüstungsaktionen, bei denen die Russen ganze Siedlungen dem Erdboden gleichmachten und nationale Heiligtümer entweihten, so abschließt: „Über den Haß gegen Russen sprach keiner. Das Gefühl, das alle Tschetschenen – klein und groß – empfanden, war stärker als Haß. Das war kein Haß, sondern eine Nichtanerkennung dieser russischen Hunde als Menschen und so ein Abscheu, Ekel und Befremden vor der unsinnigen Brutalität dieser Wesen, daß das Bedürfnis, sie zu vernichten, wie das Bedürfnis einer Vernichtung von Ratten, giftigen Spinnen und Wölfen ein ebenso natürliches Gefühl wie der Selbsterhaltungstrieb war.“ Trotz seiner humanen Motive ästhetisierte „Chadschi-Murat“ unfreiwillig den kaukasischen Krieg und machte das nordkaukasische Kolonialgebiet zum natürlichen kulturellen Topos Rußlands.
Die literarische Legitimierung des russischen Kolonialismus unterschied sich nicht grundlegend von der im englischen Weltreich. Die russische Aristokratie sowie später die russische Intelligenzija verstanden sich als Aufklärer der „Wilden“. Kurz vor seinem Lebensende war Puschkin stolz darauf, daß sein Name allen Völkern des Imperiums einmal geläufig sein wird. Die Oppositionslinie gegen den Despotismus verlief verständlicherweise nicht entlang der nationalen Frage; es war die Leibeigenschaft, die die Geister schied. Erst nach ihrer Abschaffung 1861 und während der Glasnostpolitik Kaiser Alexander II. bekamen liberale Zeitschriften wie Der Zeitgenosse eine Möglichkeit, die russische Politik im Kaukasus zu kritisieren. Zu jener Zeit war der Krieg allerdings schon siegreich beendet.
All das ist längst Geschichte. Mittels Sezessionen und nationalistischer Ausschreitungen haben die unterworfenen Völker auf die russische Aufklärung geantwortet. Dabei darf man nicht vergessen, daß die Mitglieder der jeweiligen einheimischen Nomenklatura und die diversen nationalen Mafiosi sich immer gerne als Volk verstehen. Ob die Völker dabei etwas gewonnen haben, steht auf einem anderen Blatt. Es gibt keine russische Intelligenzija mehr, die ihre Identität noch aus dem einst vertrauten imperialen Raum schöpfen könnte, so wie es den Raum des Imperiums nicht mehr gibt. Kaum jemand interessiert sich jetzt für den Kaukasus. Die Bevölkerung ist entschieden gegen die aberwitzigen militärischen Abenteuer der Jelzin-Feldwebel, die nicht von Neoimperialismus, sondern allein von der tiefen Ohnmacht der politischen Klasse Rußlands zeugen. Mit der „russischen Mentalität“ hat dieses Desaster nichts zu tun. Zugegeben, der Sowjetmacht war es nie gelungen, die kaukasischen Völker zu „pazifizieren“. Die von Puschkin und Tolstoi hervorgehobenen Charakterzüge der Militanz, der Mannesehre und Blutrache sind immer noch lebende Mechanismen der ethnischen Solidarität. Das weiß jeder außer Jelzin. Die Russen haben im Kaukasus nichts zu suchen, schon gar nicht auf diese Weise. Es ist an der Zeit, „Der Gefangene im Kaukasus“ und „Chadschi-Murat“ von Leo Tolstoi neu zu lesen. „Die Alten haben gebetet und einstimmig entschieden, Boten zu Schamil zu schicken, um ihn um Hilfe zu bitten, und machten sich sofort an die Wiederherstellung des Zerstörten.“
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