■ Der Regierende und die Stasi: Absolution
Ist es Vorwahlkampf oder ein ernsthafter Versuch, die Stasi-Debatte aus der Sackgasse herauszuführen? Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) will die Regelanfrage einschränken. Die Gauck-Behörde sollte, so sein Vorschlag, mit Ausnahme der strafrelevanten Taten nur noch Stasi-Kontakte nach 1980 weitergeben. Fünf Jahre nach der Vereinigung stellt sich bei Teilen der Christdemokraten eine neue Einsicht ein: Um die Maschine Staat zu ölen, sollen die „kleinen Spitzel“ verschont bleiben. Diepgen will die „Phase der Verunsicherung und des Gefühls ständiger Überprüfung“ ehemaliger DDR-Bürger nun beendet wissen. Der Vorschlag ist Teil einer Klimaveränderung in der Stasi-Debatte. In Bonn erarbeitet eine SPD-Arbeitsgruppe neue Vorschläge zum Umgang mit den Stasi-Akten. Die Moralisten aus der früheren DDR-Bürgerbewegung werden zunehmend von den Realisten des politischen Alltags an den Rand gedrängt.
Die Durchsetzung der früheren DDR-Eliten mit Stasi-Spitzeln war viel umfangreicher als ursprünglich angenommen. Doch gerade diese Eliten sind in den neuen Bundesländern gefragt. Ohne sie läuft auch in Zukunft keine Verwaltung, ohne ihre minimalste Zustimmung trägt sich kein System. Das hat Diepgen erkannt. Weil die CDU bei der Durchsetzung von Staatsinteressen noch immer wußte, wie die tragenden Kräften einzubinden sind, war der neue Vorstoß nur eine Frage der Zeit. Man hatte sich ja bereits nach der Wende ohne moralische Skrupel der Altkader aus Blockflöten- CDU der DDR bedient. Mit dem landesväterlichen Zungenschlag, der den kleinen Leuten im Osten die Angst vor einer möglichen Stasi-Enthüllung nehmen will und zugleich Absolution für die Zukunft erteilt, will Diepgen dem Osten beikommen. Die Mehrheit im Lande, die Vergangenheit stets eher als Hindernis denn als Herausforderung begriff, weiß er sich dabei sicher. Severin Weiland
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