■ Wir lassen lesen: Doppelt eingedreht um den Mond herum
„Was dem Sprinter die Hundertstel weniger, [...] das ist dem Turner die Eleganz und Schwierigkeit [...], der Mut, Neuheiten vorzuführen, die bislang keiner für machbar hielt“, beginnt Eberhard Gienger seine Einführung zum „Mondsalto – eine Hommage an die Kreativität des Turnens“. „Mister Turnen“, den die Autoren für die Präsentation ihres Buches mit dem Untertitel „Faszination Turnkunst“ gewonnen haben, kann sich kraft eigener Biographie natürlich in das Denken und Handeln der Erfinderelite einfühlen. Gienger vergißt jedoch auch nicht die „Vorturner“ ohne Patent, die wie die „Turn- Diva“ Swetlana Boginskaja oder der italienische Ringeweltmeister Juri Chechi lediglich „in den Herzen der Fans einen dauerhaften Platz erkämpft haben“.
Die Autoren beginnen mit einem Blick zurück und machen einen Glücksgriff. Denn wer ist geeigneter, Turngeschichte zu demonstrieren, als Leon Stukelj, der älteste noch lebende Turn-Olympionike? Der 96jährige Slowene aus Maribor („Das moderne Turnen läßt sich schwer definieren, aber es ist schön und aufregend“), mehrfacher Olympiasieger 1924 und 1928, ein Autodidakt, der „instinktiv den Fortschritt suchte“, hängt sich immer noch locker im freien Stütz in die Ringe.
Offenbar mangels Material über die Akteure ist der historische Teil bis auf den Schweizer Josef Stalder („Stalderumschwung“ am Reck) leider etwas kurz geraten. Das „Lexikon: ABC des Turnens“ von „Achtkampf“ über „Kreuzhang“ und „Querverhalten“ bis zum „Zwölfkampf“ kompensiert diese Lücke weitgehend.
Kernstück des Buches sind die 21 sorgsam verfaßten Porträts, in denen sich der reiche Erfahrungsschatz und die Erzählkunst des Verfassers, Andreas Götze, einst DDR-Meister am Pauschenpferd und langjähriger Sportjournalist der Zeitung Junge Welt, widerspiegelt. Mit Kreativität und Wagemut drückten Vera Caslavska, Nadia Comaneci, Dimitri Bilosertschew, Maxi Gnauck, Olga Korbut, Zoltan Mgyar, Daniela Silivas, Kurt Thomas dem Turnen in den letzten 30 Jahren ihren Stempel auf. Auch „Aktive“ wie Shannon Miller sowie Witali Scherbo und Waleri Belenki werden berücksichtigt. Und der „Mann des Mondsaltos“: Mitsuo Tsukahara.
Der Japaner turnte im April 1972 bei einem Turnier in Riga jene bahnbrechende Kopplung von Breiten- und Längsdrehung des Körpers – den Doppelsalto rückwärts gehockt mit integrierter ganzer Schraube als Reckabgang. Die englische Bezeichnung „Half in – half out“ galt nur als Notbehelf. „Mondsalto“ setzte sich durch. Hatte doch ein einfallsreicher japanischer Graphiker zuvor beim berühmten Chunichi-Cup-Turnier auf dem Programmheft die einzelnen Flugphasen des neuartigen Doppelsaltos in einer Fotomontage auf die Halbkugel des Mondes projiziert.
Doch nicht nur der „Tsukahara“ gebückt, gehockt und doppelt findet sich im „Patentamt“. Das komplette Verzeichnis aller offiziellen (dem „Code de pointage“ entnommen) und „nicht patentierten“ Erfindungen, sortiert nach ihren Urhebern mit dem Jahr ihrer Erstaufführung, zeigt eindrucksvoll, daß der Erfindergeist auf unzähligen Namen basierte und sich keineswegs auf die Sieger beschränkte. „Jäger“, „Kasamatsu“, „Kroll“, „Healy“, „Deltschew“, „Gaylord“, „Kovacs“ oder „Gienger“ sind ein kleiner Ausschnitt. Beim medialen Fachchinesisch kann der Leser ab sofort mithalten.
Nach dem geistig anstrengenden Nachvollzug der komplizierten Kombinationen aus Überschlägen und Drehungen erfreut sich dann das Auge zum Ausspannen an zwei gelungenen Farbfotoserien über Erfinder und Stars. Karl-Wilhelm Götte
Andreas Götze, Jürgen Uhr: Mondsalto – die großen Erfinder. gym-books-Verlag, Neunkirchen 1994, 292 Seiten, 44.80 DM
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