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Recht verdreht

„amnesty international“ läßt in Oxford Dekonstruktivisten über Recht und Gerechtigkeit streiten  ■ Von Andrea Kern

Der Skeptiker begleitet die Philosophie seit jeher wie ihr eigener Schatten. Ein Segen wäre es, könnte man ihn ein für allemal widerlegen. Das aber hat bisher noch keiner geschafft, und unverwüstlich plagt er daher in immer wieder neuem Gewand die universalistisch gesonnene Philosophie. Und nicht nur die. Während nämlich in der Philosophie durch den Skeptiker bloß theoretische Prämissen in Frage gestellt werden, steht für eine Menschenrechtsorganisation wie amnesty international die Grundlage ihrer praktischen Arbeit auf dem Spiel. Den Leitgedanken, der die Arbeit von amnesty begründet, hat John G. Healey, Geschäftsführer von amnesty in den USA, unlängst in einem Rundbrief denn auch so formuliert: „Für amnesty wird die Aufgabe in den kommenden zehn Jahren darin bestehen, ein und dasselbe Kriterium – denselben, alleinigen Maßstab – auf alle Menschenrechtsverletzungen anzuwenden. Unsere weltweite Bewegung muß Gerechtigkeit, menschlichen Anstand und den Schutz der Unterdrückten als ihren einzigen Maßstab betrachten.“

Was aber, wenn der Skeptiker recht hat? Wenn es diesen einzigen Maßstab gar nicht gibt? Und wenn die ihm zugrunde liegende Vorstellung vom Menschen als autonomem und rationalem Subjekt, das ein Recht auf Achtung hat, als eine humanistische Fiktion entlarvt ist?

Das nervöse Unbehagen, das skeptische Fragen dieser Art verursachen, hat amnesty dazu veranlaßt, seit 1992 regelmäßig in Oxford Vortragsreihen zu veranstalten, bei denen ReferentInnen von internationalem Rang über die Frage der Menschenrechte debattieren. Unter dem Titel „Freiheit und Interpretation“ ist nun die Übersetzung der ersten Oxforder amnesty-Vortragsreihe erschienen. Die Frage, die die Vorträge nach dem Wunsch von amnesty beantworten sollten, war nun keine geringere als die nach den Konsequenzen, die die zeitgenössische Philosophie der Dekonstruktion auf die Konzeption der Menschenrechte hat. Oder anders gefragt: Wie hält's die Dekonstruktion eigentlich mit der Gerechtigkeit?

Eingeladen wurde dazu die Crème de la crème der zeitgenössischen Literaturwissenschaft, wohl im Glauben, daß die es jedenfalls wissen muß. Von Julia Kristeva über Terry Eagleton bis hin zu Paul Ricoeur waren denn auch alle gekommen. Doch eine klare Antwort auf die Gretchenfrage gaben sie leider nicht. Zum Teil lag das wohl daran, daß das Komitee der amnesty-Vorträge diese nun eigentlich ins Gebiet der Moral- und Rechtsphilosophie gehörende Frage merkwürdigerweise ausschließlich LiteraturwissenschaftlerInnen gestellt hat. So verfehlt etwa der Vortrag von Julia Kristeva gänzlich sein Thema. Ihr Referat ist zwar eine schöne Studie über die sinndestruktiven Energien poetischen Schreibens. Doch inwiefern die „verrückten Triebe“, die sich im poetischen Text manifestieren, bei der Konzeption der Menschenrechte zu berücksichtigen sind, das erklärt sie nicht.

Ergiebiger sind die Vorträge von den beiden Anglisten Wayne O. Booth (Chicago) und Terry Eagleton (Oxford). Nicht weil sie die Frage klären könnten, sondern weil sie stellvertretend jene zwei extremen und einander vollkommen widersprechenden Versionen repräsentieren, in denen die Dekonstruktion im Umlauf ist. Nach der einen Version nämlich ist sie die zeitgenössische Gestalt des uralten Skeptikers, der die Idee universeller Gerechtigkeit radikal kritisiert. Nach der anderen Version aber ist sie gerade eine Kritik dieser Kritik. In diesem Sinne versucht Booth die These zu begründen, daß die Dekonstruktion recht besehen die Verteidigung der Menschenrechte gar nicht in Frage stellt, sondern diesen gar „eine viel bessere Grundlage“ verschafft. Denn wenn die Idee eines isolierten, atomistischen Individuums, die einst zur Formulierung der Menschenrechte führte, als eine Fiktion entlarvt ist, dann verschwindet der Mensch noch lange nicht, „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“, wie es Michel Foucault und eine ganze Generation mit ihm glaubte. Nein, das war voreilig und einfach zu kurz gedacht: Das Ich wird durch die Erkenntnis seiner sozialen Verfaßtheit nicht abgeschafft, sondern vom Kopf auf die Füße gestellt. Und dieses Ich ist für Booth nun unter allen Umständen „verteidigenswert“, gerade weil es kein bloßes Individuum mehr, sondern immer schon eine „Gemeinschaft“ ist.

Eagleton erzählt dagegen die andere, skeptische Version der Dekonstruktion, in der sie auch hierzulande zuweilen noch gehandelt wird: In dieser Version erscheint die Dekonstruktion als eine Art Neuauflage des Dezisionismus à la Carl Schmitt. Sie behauptet danach, daß „das gesamte Konzept der Menschenrechte in den unglaubwürdigen Bereich des metaphysischen Humanismus“ gehöre. Moralisches Urteilen sei nicht möglich, weil es einen universalen Maßstab zu seiner Begründung nicht gibt.

Indes, der Streit zwischen den beiden Versionen der Dekonstruktion ist hausgemacht: Keine trifft wirklich das Problem, das die dekonstruktive Perspektive auf Recht und Gerechtigkeit aufgeworfen hat. Die Dekonstruktion leugnet die universale Geltung der Menschenrechte nicht, aber sie gibt für sie auch keine hegelianisierende Begründung.

Dekonstruktion und Menschenrechte, das ist ein Problemtitel, weil die Dekonstruktion den Anspruch der Idee einer alle umgreifenden Gerechtigkeit ernster nimmt und radikaler versteht, als das bisher im politischen Liberalismus der Fall war. Was das bedeutet, hat Jacques Derrida in seinem Aufsatz „Gesetzeskraft“ klargemacht, den er auf einem von der Cardozo Law School 1989 in New York veranstalteten Kolloqium zu ebendiesem Thema vorgetragen hat (1991 auf deutsch erschienen). Ziemlich unverständlich ist, daß keiner der amnesty-ReferentInnen sich auf diesen Text bezieht, der eigentlich der Schlüssel zur ganzen Debatte ist. In ihm zeigt Derrida, daß es nicht darum geht, die Gerechtigkeit, sondern vielmehr das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit zu dekonstruieren. Es gibt kein Recht ohne Gerechtigkeit, so die These, aber auch keine Gerechtigkeit ohne Recht. Zwischen beiden besteht vielmehr eine irreduzible Spannung. Denn dasjenige Moment, das Recht auf Gerechtigkeit bezieht, verknüpft es ebenso unvermeidlich mit Gewalt. Es ist die Gewalt des Ausschlusses, die der Etablierung einer rechtlichen Ordnung notwendig einbeschrieben ist und die sich in jeder Anwendung des Rechts wiederholt.

Drucilla Cornell, Juristin an der Cardozo Law School, kommt in ihrem Beitrag zum New Yorker Kolloquium, der in dem jüngst erschienenen Sammelband „Gewalt und Gerechtigkeit“ nachzulesen ist, zu Recht zu dem Schluß, daß „die Identifizierung der Dekonstruktion mit einem ethischen Skeptizismus eine schwerwiegende Fehlinterpretation ist“. Denn die Dekonstruktion kritisiert die Menschenrechte nicht einfach skeptisch von außen, sondern sieht das Problem im Innern ihres Begriffs: Es ist das Paradox der Verpflichtung, Gerechtigkeit für alle Menschen als ein Recht aller Menschen zu verwirklichen.

Von diesem Problem allerdings waren die Anglisten in Oxford weit entfernt. Das amnesty-Komitee wäre besser beraten gewesen, wenn es auch ein paar RechtswissenschaftlerInnen nach Oxford geholt hätte, denn die scheinen sich derzeit um einiges besser auf die Dekonstruktion der Gerechtigkeit zu verstehen.

Barbara Johnson (Hrsg.): „Freiheit und Interpretation. Amnesty- Vorlesungen 1992“. S. Fischer Verlag 1994, 212 Seiten, 18,90 DM

Jacques Derrida: „Gesetzeskraft“. Aus dem Französischen von Alexander Garcia Düttmann. Ed. Suhrkamp 1991, 125 Seiten, 10 DM

Anselm Haverkamp (Hrsg.): „Gewalt und Gerechtigkeit“. Ed. Suhrkamp 1994, 446 Seiten, 27,80 DM

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