: Die Siedlungspolitik bedroht den Frieden
Trotz des Osloer Abkommens mit den Palästinensern geht die Konfiskation von Grund und Boden in der Westbank durch Israel weiter / Erweiterung von Siedlungen und Straßenbau ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin
Die israelische Siedlungspolitik in der besetzten Westbank ist zu einem zentralen Problem für die Fortsetzung des Friedensprozesses mit den Palästinensern geworden. Derzeit finden täglich mehrere Demonstrationen gegen Landnahme und die Erweiterung bestehender Siedlungen statt. Die palästinensische Regierungsbehörde, die am Samstag ihre wöchentliche Kabinettssitzung fast ausschließlich diesem Thema widmete, will heute in der autonomen Enklave Jericho eine Konferenz gegen die Siedlungspolitik abhalten. Jüngster Anlaß für diese Aktivitäten war eine Entscheidung der Regierung unter Ministerpräsident Jitzhak Rabin, den Siedlern von Efrat zu erlauben, ihre Erweiterungsbauten auf einem anderen als dem ursprünglich vorgesehenen Hügel vorzunehmen. Bei all diesen Aktivitäten – und Efrat ist nicht das einzige Beispiel – geht es um den Teil des Bodens, der nach fast drei Jahrzehnten israelischer Landnahme für die Palästinenser in der Westbank noch übriggeblieben ist.
Trotz des Osloer Grundsatzabkommens zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) im Herbst 1993 wurde die israelische Siedlungspolitik fortgesetzt und in jüngster Zeit gar noch beschleunigt. Dabei war in dem Abkommen festgehalten worden, daß der Status quo bis zur letzten Phase des Friedensprozesses im Sommer 1996 aufrechterhalten werden soll. Zudem hatten die USA ein Ende des Siedlungsbaus zur Vorbedingung für eine Kreditgarantie in Höhe von 10 Milliarden Dollar gemacht.
Im Vordergrund steht der Ausbau des israelischen Siedlungsgürtels um Großjerusalem und die Erweiterung bestehender Siedlungen (insgesamt mehr als 140). Im Hinblick auf eine Umgruppierung israelischer Truppen in der Westbank werden die Siedlungen zudem mit neuen Sicherheitszäunen ausgestattet. Außerdem wird ein paralleles Straßensystem für israelische Bürger errichtet, beides Maßnahmen, die mit weiterer Landnahme einhergehen.
Die Palästinenser stellen mit wachsender Besorgnis fest, daß es sich parallel zu den Verhandlungen über die Zukunft der Westbank um die Schaffung neuer Tatsachen handelt, gegen die sie nun mit Protestaktionen vorgehen. Was die Palästinenser besonders motiviert, ist der wohlbegründete Verdacht, daß Israel beabsichtigt, die Westbank zu „kantonisieren“. Durch eine Reihe von erweiterten Siedlungsblocks, so die Befürchtung, sollen mehrere palästinensische Enklaven geschaffen werden, die keine zusammenhängenden Gebiete mehr zulassen und außerdem die Region Großjerusalem von der übrigen Westbank abtrennen. Wenn man sich das von der Westbank isolierte autonome Gaza vor Augen hält, wird deutlich, daß eine derartige Zersplitterung des für die Palästinenser übriggelassenen winzigen Rests von Palästina keine Eigenstaatlichkeit zuläßt. Bestenfalls könnte man dann von Gebilden sprechen, die eine Ähnlichkeit mit den südafrikanischen Homelands haben.
Zwei Jahre vor der Unterzeichnung des Osloer Grundsatzabkommens hatte Israel ungefähr 65 Prozent des gesamten Landes in der Westbank und 50 Prozent des Bodens im Gaza-Streifen mit Hilfe einer Reihe militärischer Anordnungen „übernommen“. Derlei Landnahme in besetzten Gebieten ist nach dem internationalen Recht gesetzeswidrig, sowohl nach dem Abkommen von Den Haag von 1907 als auch nach der 4. Genfer Konvention.
Eine vom Jerusalem Media & Communication Center (JMCC) zusammengestellte Statistik zeigt, daß seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens im September 1993 insgesamt 26.382 Morgen palästinensischen Grundbesitzes zu „militärisch geschlossenen Zonen“ deklariert wurden. Außerdem wurden 4.295 Morgen für Siedlungserweiterungen konfisziert. 2.984 Morgen wurden für israelischen Straßenbau enteignet. Hinzu kommen jetzt weitere 1.500 Morgen für den Bau neuer „Sicherheitsstraßen“ zum Schutz der Siedler. Schließlich kam es nach Oslo auch zur Konfiszierung von 2.850 Morgen palästinensischen Bodens unter dem Titel „Naturschutzgebiete“. JMCC führt in diesem Zusammenhang an, daß 10.454 Bäume in palästinensischem Besitz entwurzelt wurden.
Aus einem soeben veröffentlichten Bericht des palästinensischen „Geographic Center“ in Jerusalem geht hervor, daß im vergangenen Jahr über 2.500 Morgen palästinensischen Landbesitzes in der Umgebung der Stadt Hebron am Westufer enteignet wurden. In den meisten Fällen wurde das Land zugunsten israelischer Siedler konfisziert.
Allein zwischen Oktober 1992 und September 1993 hat die israelische Regierung 431 Millionen Dollar für Siedlungszwecke im Gaza- Streifen und in der Westbank (ohne Großjerusalem) ausgegeben. Palästinensische Kreise schätzen die Ausgaben für die Zeit nach dem Osloer Abkommen auf eine Summe zwischen einer und zwei Milliarden Dollar.
Rina Zamir, Direktorin im israelischen Bauministerium für Jerusalem und Umgebung, gab kürzlich bekannt, daß in diesem Jahr mit dem Bau von 10.000 „jüdischen Wohnungen“ in Ost-Jerusalem und den umliegenden Siedlungen begonnen werden soll. Regierungsmitglieder vom linken Flügel der Arbeitspartei betonten, daß so Tatsachen geschaffen werden sollen, die es den Palästinensern unmöglich machen, Ost-Jerusalem oder die weitere Umgebung der Stadt für sich in Anspruch zu nehmen.
Für die kommenden Tage und Wochen sind massive palästinensische Protestaktionen gegen die neue israelische Siedlungswelle geplant. Der Zusammenstoß bei Efrat zwischen Siedlern und Soldaten auf der einen und den palästinensischen Landeigentümern auf der anderen Seite war nur der Auftakt für eine ernste Auseinandersetzung, bei der es darum geht, ob der Friedensprozeß weitergeführt werden kann.
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