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Wer will noch nach drüben?

Traditionell war Marseille die Brücke von Frankreich nach Algerien / Die französischen Fähren liegen still, der Handel im Hafen auch  ■ Aus Marseille Dorothea Hahn

Die „Liberté“ fährt nicht nach Algier. Sie liegt im Meereshafen La Joliette vor Anker und wartet auf bessere Zeiten. Das Sicherheitsrisiko ist zu hoch, sagen die französischen Behörden, die ihre Schiffe und Flugzeuge nicht mehr in das Land fahren lassen, in dem sich militante Islamisten und ein bis an die Zähne bewaffnetes Regime blutige Gefechte liefern.

Das Land ist Frankreichs Gegenüber. Nur zehn Stunden an Bord der schwerfälligen Ro-Ro- Fähren trennen die beiden Ufer; Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte verbinden sie. Was immer auf der einen Seite passiert – es bezieht die andere mit ein. Zuletzt hat sich das beim Unabhängigkeitskrieg gezeigt, als Hunderttausende aus Algerien nach Frankreich flohen. Fast alle kamen über Marseille.

Die Entführung des Air- France-Airbus am Heiligen Abend war wieder so ein Überschwappen von der einen Mittelmeerseite auf die andere. „Es wird Krieg geben. Da bin ich sicher“, stöhnt die blonde Dame in dem eleganten Café am Quai du Port im Zentrum von Marseille. Sie kam 1961 in die Stadt – und ist am Mittelmeer geblieben, wie die meisten Algerien-Franzosen. Bis heute heißen sie pieds-noirs, „Schwarzfüße“, wie die Araber einst die mit schwarzen Lederschuhen bekleideten Europäer nannten. „Damals“, erinnert sie sich, „hat es genauso angefangen: Erst gab es Kämpfe in der Provinz, die niemand ernst nahm. Dann ging es plötzlich in Algier los. In unseren Kinos und Cafés platzten die Bomben. Ich habe viele Freunde verloren.“

Ihr Vater war Militär in der Kolonialarmee, sie selbst arbeitete als Beamtin. Eine Rückkehr nach Algerien stand lange nicht zur Debatte, weil „wir auf dem Index standen“. Inzwischen ist die Dame verrentet und will unbedingt noch einmal ihre Heimat besuchen. Wie in den alten Zeiten spricht sie von „Nordafrika“ und dem „Algérois“. Und wie damals mißtraut sie „den Arabern“. „Die kommen mit Schießpulver und einem Messer zur Welt“, wiederholt sie einen unter pieds-noirs verbreiteten Satz.

„Wovor sollte ich Angst haben?“ fragt der alte Mann, der sich ein verschlissenes gelbes Tuch um den Kopf geschlungen hat, „ich bin mit 16 um die Welt gereist. Seither weiß ich, daß es überall Terroristen gibt. Es geschieht, was Gott will.“ 40 Jahre schon lebt der alte Algerier in Frankreich. Jetzt ist er Rentner und reist noch öfter als früher hin und her. Alle drei Monate besteigt er die Fähre im Meereshafen La Joliette, um „drüben“ seine Verwandtschaft zu besuchen. „Die Unterbrechung des Fährverkehrs wird nicht lange dauern“, ist er sicher, „Frankreich kann überhaupt nicht auf Algerien verzichten.“

Die französischen Behörden lassen sich Zeit. Spezialisten des Innenministeriums prüfen neue Sicherheitskontrollen für Flug- und Meereshäfen, und Ballistik-Experten und der Untersuchungsrichter für internationalen Terror, Jean- Louis Bruguière, untersuchen den Airbus, der immer noch am Rand des Flughafens von Marseille geparkt ist. Die „Liberté“ darf „vorerst“ nur nach Bastia und Tunis fahren. Doch die „Suspendierung“ aus Sicherheitsgründen gilt nur für französische Gesellschaften. Die algerische Fluggesellschaft darf Paris und Marseille weiterhin bedienen. Und für die gestrichenen französischen Fähren sind direkt algerische Schiffe eingesprungen. Wer nach „drüben“ will, bekommt auch in diesen Tagen problemlos eine Fahrkarte. Die Nachfrage aber ist rasant zurückgegangen. 1994 fuhren 53 Prozent weniger Menschen von Frankreich nach Algier als im Vorjahr. „Wahrscheinlich haben sie Angst wegen der politischen Probleme“, mutmaßt Louis Nyer, Öffentlichkeitsreferent des „Autonomen Hafens von Marseille“. Er ist oft in Algerien gewesen, hat an gemeinsamen Hafenprojekten mitgearbeitet. Seit ein paar Monaten fährt er nicht mehr „rüber“ – aus Sicherheitsgründen.

Im Passagierhafen von Marseille, der sich auf Algerien, Tunesien und Korsika spezialisiert hat, sind die Einbußen beträchtlich. Wenn das Ziel Algerien langfristig wegfällt, wird das neue Terminal, das in diesem Sommer eröffnet wird, leer bleiben. Dennoch verbreitet Nyer Optimismus, glaubt, daß „der Zwischenfall“ keine langfristigen Folgen haben werde. Schließlich sei Algerien ein reiches Land, auch wenn die Regierung „viele Fehler“ gemacht, die Landwirtschaft ruiniert und zu sehr auf die Schwerindustrie gesetzt habe. „Mit einer neuen Politik“, glaubt er, „ist da viel zu machen.“

Im außerhalb von Marseille gelegenen Industriehafen Fos kommt ein großer Teil der für Europa bestimmten algerischen Öl- und Gasprodukte an, wird an Ort und Stelle raffiniert und per Pipeline bis nach Deutschland weitertransportiert. Seit der Flugzeugentführung weigern sich die Besatzungen mehrerer Öltanker, nach Algerien zu fahren. Ihre Schiffe mit 250.000 bis 500.000 Tonnen Öl an Bord seien schwimmende Bomben, argumentierten sie, niemand könne für ihre Sicherheit garantieren. Für den Hafen bedeutet das keine Einbußen, die Tanker können schließlich auch Kuwait und andere Förderländer anfahren. Für Algerien aber, das selbst nur über eine kleine Tankerflotte verfügt, könnten die wirtschaftlichen Folgen bitter werden.

Im Stadtteil Belsunce zwischen dem alten und neuen Hafen von Marseille klingt Rai-Musik durch die Gassen. Wie in den Kasbahs auf der anderen Seite des Mittelmeers haben die Händler ihre Waren vor den Geschäften auf die Straße gestellt und vom Vordach heruntergehängt. Sie bieten Teppiche in schrillen Farben an, Musikkassetten und riesige Kunststoffkoffer. Neben den Kassen stapeln sich die großen blau-weiß oder rot- weiß karierten Plastiktaschen, die so geeignet sind für den Transport auf dem Autodach. Wer nach Algerien reiste, deckte sich früher hier in Belsunce ein. Denn „drüben“ gibt es zwar auch alles, aber viel teurer.

An diesem kalten Januarmorgen bleiben in Belsunce die Händler unter sich. Niemand wühlt in den Kleiderständen von „Papi“, der die billigste Wäsche der ganzen Stadt im Angebot hat. Auch auf dem orientalischen Flohmarkt im Schatten des Arc de Triomphe von Marseille geht das Geschäft stockend. Ein alter Mann mit dunkelblauer Wollmütze bietet vergeblich seine drei Päckchen algerische Zigaretten an. Und niemand interessiert sich für das arabisch beschriftete Transistorradio seines Nebenmannes.

Der Boulevard des Dames führt in einer geraden Linie vom Arc de Triomphe zum Meereshafen. Wer in La Joliette aufs Schiff geht, kommt an diesem Boulevard kaum vorbei. In den Parterrelokalen der heruntergekommenen Häuser haben sich Import-Export- Läden eingerichtet. Dicht an dicht mit einem Reisebüro, das sich auf den Mekka-Tourismus spezialisiert hat, und der Agentur der staatlichen algerischen Schiffsgesellschaft ENTMV, die ihr Schaufenster mit einem Poster zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit schmückt, an dem vertrocknete Fliegenkadaver kleben. Mit zwei Preisschildern zeichnen die Import-Export-Läden ihre Mikrowellenherde, elektrischen Zitruspressen und Parabolantennen aus: Den – höheren – nationalen und den steuerfreien. Obwohl um 3 Uhr die „El Djezair“ nach Algier fährt, sind die Läden leer.

„Mit Algerien fällt ein großer Markt für Marseille weg“, sagt der Autohändler Poidevin. Direkt gegenüber vom Meereshafen betreibt er sein Import- und Exportgeschäft für steuerfreie Wagen. Seine Visitenkarte ist arabisch beschriftet. An den Wänden hängen Fotos von französischen und japanischen Vierradantrieben. „Früher“ verkaufte er viele PKWs an algerische Kriegerwitwen und Kämpfer aus dem Unabhängigkeitskrieg. Im vergangenen Jahr strich die algerische Regierung deren Steuerbefreiung. Anschließend verschärfte die französische Regierung die Visabestimmungen für Algerier. Das Autogeschäft ging in den Keller. Heute verkauft Poidevin fast nur noch Nutzwagen. „Sicher“, sagt er, „wir können unser Geschäft auf Marokko, Tunesien und selbst auf die Komoren ausweiten. Aber das kann man nicht mit zwei Millionen Algeriern in Frankreich vergleichen.“

Selbst der Nutzwagenhandel droht jetzt zum Stillstand zu kommen. Denn die algerischen Fähren sind für große LKWs nicht breit genug. Tagelang ist der junge algerische Familienvater, der im Wartesaal des Hafens sitzt, von Transportfirma zu Transportfirma gelaufen, um seine Laster aufzugeben. „Die Italiener fahren nach Algerien, die Panamaer fahren, und die Algerier selbst auch“, schimpft er, „aber niemand kann meine LKWs mitnehmen.“ Jetzt fährt er mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern zum Familienbesuch nach Algier. Die LKWs hat er in Marseille gelassen. Angst um sich und seine Familie hat er nicht, schließlich fährt er ja auch mit 160 Stundenkilometern über die Autobahn. Angst hatte er erst einmal – das war in Frankreich während des Golfkriegs, als die Ressentiments gegen Araber so groß waren, daß „man sich kaum allein auf die Straße traute“.

Die beiden algerischen Studenten, die neben der jungen Familie in dem gelbgekachelten Wartesaal sitzen, haben wochenlang auf ihr Visum warten müssen. „Wer von Algerien nach Frankreich reisen will, muß ein Visum in Nantes beantragen. Wer nach Deutschland will, muß sogar bis Tunesien reisen, um es zu beantragen“, sagt einer von ihnen.

Die Gruppe der Wartenden, die mit der „El Djezair“ nach Algier wollen, verliert sich in dem großen Saal. 150 Menschen für eine 1.000-Personen-Fähre, darunter kein einziger Franzose. Für die meisten Passagiere ist die Angst vor Attentaten kein Thema. Als sich die Milchglastüren zur Sicherheitskontrolle öffnen, stürzen schwerbeladene alte Männer als erste vor. Aus ihren riesigen Plastiktaschen quellen originalverpackte T-Shirts und Pullover.

Minuten später kommen die ersten von ihnen aus einer Nebentür zurück. Ebenso beladen, wie sie hineingegangen waren. Die Kontrolleure haben sie abgewiesen, weil sie mehr als zwei Gepäckstücke hatten. Jetzt hocken sie schimpfend über ihren Plastiktaschen, zerren Stoffe heraus und versuchen, noch ein bißchen mehr hineinzuquetschen. Auch ein junger Algerier aus Italien ist wegen seiner drei kleinen Reisetaschen zurückgeschickt worden. Als ihm der Träger erklärt, er könne an der Bar eine der großen blau-weiß oder rot-weiß karierten Plastiktaschen erwerben und alles hineinstopfen, überschlägt sich seine Stimme fast. „Ich komme nie wieder nach Frankreich“, schwört er laut.

„Ein Glück, daß unsere GIGN (die französische Elitepolizei, d. Red.) das Geiseldrama beendet hat“, sinniert eine Dame, die ebenfalls nach dem Algerienkrieg nach Frankreich geflohen ist. Viel zu lange habe die französische Regierung dem algerischen Treiben tatenlos zugesehen. So eine Haltung müsse sich zweifelsohne rächen. Am Nordrand des Mittelmeers hat die Dame ein Restaurant mit arabischen Spezialitäten eröffnet und ist nie wieder in ihren Geburtsort zurückgekehrt. „Die Welt ist groß“, sagt sie, „es muß nicht Algerien sein, wo mein Vater ermordet wurde.“

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