: Das ist eine Gespensterdebatte
■ Der Berliner Stasi-Landesbeauftragte Martin Gutzeit ist gegen ein Schlußgesetz / Dem Vorschlag von Diepgen, die Regelanfrage bei der Gauck-Behörde für den öffentlichen Dienst einzuschränken, kann er nichts abgewinnen
Eberhard Diepgen hat in der vorigen Woche vorgeschlagen, lange zurückliegende Kontakte mit der Staatssicherheit sollten nicht länger unter die Auskunftspflicht der Gauck-Behörde fallen, wenn Bewerber für den öffentlichen Dienst überprüft werden. Der Regierende Bürgermeister hat angekündigt, daß er eine entsprechende Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes erreichen wolle. Strafrelevante Vorgänge wolle er von der Einschränkung ausnehmen. Die taz sprach darüber mit Martin Gutzeit, Berliner Landesbeauftragter für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen. Der Theologe Gutzeit hat im Oktober 1989 die Ost-SPD mitgegründet und war – neben Markus Meckel – ihr eigentlicher Kopf.
taz: In den letzten Tagen reden alle von den neuesten „Stasi-Enthüllungen“ beim ORB, und da ich nun schon mal beim Stasi-Landesbeauftragten bin, wäre es ja vielleicht komisch, wenn ich Sie nicht danach fragen würde. Also: Was halten Sie von den Diskussionen über Lutz Bertram und seine IM- Tätigkeit?
Martin Gutzeit: Das ist schwierig für mich zu beurteilen. Es liegen keine Akten vor, ich kenne also auch nur das, was über die Medien zu erfahren war. Wenn es zutrifft, was Bertram selber sagt, also daß er über Jahre mit dem MfS zusammengearbeitet hat, daß er auch heute noch freundschaftliche Kontakte zu seinem ehemaligen Führungsoffizier hat, dann kann er seine Sendungen nicht weiter moderieren.
Bertram hat Zeit gehabt, früher darüber zu reden. Er hat in seinen Sendungen viel über die Staatssicherheit diskutiert, hat mit Tätern und Opfern gesprochen, es aber nicht für nötig befunden, auch über sich selbst zu reden. Hier geht es nicht vordergründig um die Frage, wie viele Berichte Bertram geschrieben hat, sondern um seine Glaubwürdigkeit als politischer Journalist. Viele Leute fühlen sich von ihm getäuscht.
Lassen Sie uns zum eigentlichen Thema kommen. Glauben Sie, daß Diepgens Vorschlag der Überzeugung entspringt, die Überprüfungspraxis im öffentlichen Dienst verbessern zu müssen, oder steckt ein politisches Kalkül dahinter, auf diese Weise im Osten Stimmen zu gewinnen?
Es kann schon sein, daß sich Diepgen angesichts der schwierigen Situation der CDU im Ostteil der Stadt einiges Positive davon verspricht. Aber das müssen Sie ihn schon selber fragen. So gut kenne ich ihn nicht.
Wie finden Sie denn den Vorschlag?
Nicht besonders produktiv. Ich halte ihn sogar für falsch. Die Überprüfungen im öffentlichen Dienst im Land Berlin sind in vielen Bereichen zu neunzig, fünfundneunzig Prozent abgeschlossen; die Polizei hinkt da hinterher, weil deren Überprüfung erst spät beantragt wurde. Ich fände es nicht sehr klug, in diesem laufenden Verfahren, das kurz vor dem Abschluß steht, die Spielregeln zu ändern.
Das ist doch rein formal betrachtet. Wollen Sie die jetzige Regelanfrage nicht verändern, weil sie gut und richtig ist oder weil ein deutscher Beamter, wenn er etwas angefangen hat, es auch genauso zu Ende bringt?
Ich betrachte das nicht formal. Meiner Auffassung nach hat sich die differenzierte Regelanfrage im Land Berlin bewährt.
Der Diepgen-Vorschlag geht ja auf eine Idee des Direktors der Gauck-Behörde, Hans-Jörg Geiger, zurück. Der begründet eine Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes unter anderem damit, daß kleinere Personalstellen aufgrund mangelnder Erfahrung bei Stasi-Verstrickungen Fehlentscheidungen getroffen haben. Was ist verkehrt daran, das Risiko für solche personellen Fehlentscheidungen zu vermindern?
Einige grobe Fehlentscheidungen mag es gegeben haben, aber das war am Anfang der Überprüfungen. Mittlerweile haben die Personalstellen genügend Erfahrungen. Wenn Sie sich einmal ansehen, wie wenig positive Bescheide aus der Gauck-Behörde eine Kündigung nach sich ziehen, dann merken Sie, daß hier eine wirkliche Einzelfallprüfung stattfindet. An den Schulen beispielsweise hat nur ein Prozent aller überprüften Lehrer eine Kündigung erhalten. Beim besten Willen: Ich kann hier keine massenhafte Diskriminierung von Ostdeutschen feststellen, wie einige immer wieder behaupten.
Bei den Entscheidungen spielt die Frage, wie lange ein Stasi-Kontakt zurückliegt und was da genau passiert ist, schon eine Rolle. Eine Einschränkung der Stasi-Überprüfung wäre ein Mißtrauensvotum gegenüber den personalführenden Stellen.
Und trotzdem gibt es immer wieder umstrittene oder gar unverständliche Entscheidungen. Der Hellersdorfer Stadtrat Peter Winkel ist entlassen worden, weil er eine versuchte Stasi-Anwerbung in den sechziger Jahren in seinen Unterlagen nicht angegeben hat; er berief sich darauf, diesen „Kontakt“ vergessen zu haben.
Solche umstrittenen Entscheidungen würde es auch mit einer veränderten Regelanfrage geben. Geiger hat gesagt, es müßte bei einer Einschränkung der Stasi- Überprüfung juristisch genau definiert werden, welche Kontakte als unerheblich und welche als wichtig gelten. Wie soll das gehen, ohne daß nicht auch danach in einzelnen Fällen unterschiedliche Bewertungen möglich sind? Vor allem: Wer soll das entscheiden? Die Gauck- Behörde? Sie würde damit genau in die Rolle des Richters geraten, die sie zu Recht nicht einnehmen will und nicht soll. Nebenbei bemerkt: Die veränderte Regelanfrage soll nach den Vorstellungen ihrer Urheber nicht für Beamte in leitenden Positionen gelten, die selbst Personalüberprüfungen vornehmen. Bei Peter Winkel würde auch unter diesen Umständen dieselbe Einzelfallprüfung stattfinden, die jetzt stattgefunden hat.
Also müssen die umstrittenen Fälle weiterhin vor dem Arbeitsgericht geklärt werden.
Angesichts der Gefahr, daß man einen Fehler macht, kann man doch nicht die Hände in den Schoß legen.
Jeder, der meint, nach seiner Überprüfung sei ihm zu Unrecht gekündigt worden, kann das von einem Arbeitsgericht prüfen lassen. Das ist auch gut so. Dafür haben wir im Osten jetzt einen Rechtsstaat. Die Arbeitsgerichte haben in bezug auf die beruflichen Konsequenzen nach Stasi-Verstrickungen mittlerweile eine differenzierte und erprobte Rechtsprechung.
Nach dem, was Sie jetzt gesagt haben, kann ich mir lebhaft vorstellen, was Sie von Stolpes Worten halten, die Regelanfrage bei der Gauck-Behörde für Beamte des öffentlichen Dienstes im Osten sei ein „auslaufendes Modell“.
Von dieser Art Schlußstrich halte ich überhaupt nichts. Das hieße doch, wir sind den falschen Weg gegangen.
Es sieht ganz so aus, als ob Stolpe genau das meint.
Der meint das auch so. Damit wäre jedoch der gesamte Aufbau einer rechtsstaatlichen Verwaltung, auch durch Entlassungen von belasteten Beamten, diskreditiert. Dieser Weg wurde im übrigen von der letzten DDR-Volkskammer geebnet.
Die Praxis der Stasi-Überprüfungen im öffentlichen Dienst unterliegt ja nicht einer generellen gesetzlichen Regelung, sie wird von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich gehandhabt. Halten Sie es für möglich, daß einzelne Länder da ausscheren und die Regelanfrage abschaffen?
Für Brandenburg will ich das nicht ausschließen.
Sehen Sie diese Diskussionen über die Regelanfrage bei der Gauck-Behörde als einen Schritt hin zu einer allgemeinen Amnestie oder zu einem Schlußgesetz?
Was soll denn solch ein Schlußgesetz beinhalten?
Warum stellen Sie mir die Frage?
Na ja, da wird doch alles durcheinandergebracht: strafrechtliche Vorgänge, Wahlfälschung, Mauerschützen, die Regelanfrage im öffentlichen Dienst, das Rentenrecht, das einige als Rentenstrafrecht bezeichnen. Entschuldigung, aber was soll beim Rentenrecht amnestiert werden? Das einzige, was überhaupt amnestiert werden könnte, wären die Vergehen, die strafrechtlich verfolgt werden.
Aber gerade da wird, wie ich finde, eine Gespensterdebatte geführt. Manchmal hat man ja schon den Eindruck, in diesem Land würden Tausende im Gefängnis sitzen. Nehmen wir das Beispiel Wahlfälschung: Wie viele sind deswegen denn überhaupt verurteilt worden? Kaum einer. Dabei ist bei den Wahlen in der DDR staatliches Unrecht geschehen, für das einzelne auch verantwortlich sind. Ich erinnere mich noch genau an die Demonstration am 7. Juni 1989 vor der Sophienkirche in Berlin – wegen der Wahlfälschung. Wir hatten ein starkes Bewußtsein für das Unrecht, das da geschehen war, und wollten, daß das aufgeklärt und bestraft wird. Das ist doch keine Debatte, die uns vom Westen aufgezwungen wurde und unter der wir heute zu leiden hätten. Interview: Jens König
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen