: Anträge treffen schleppend ein
■ Bei den Pflegekassen sind bislang erst 12.000 von erwarteten 60.000 Anträgen auf Leistungen aus der Pflegeversicherung eingegangen / Es sind zuwenig Gutachter im Einsatz / Pflegesätze noch unklar
Erst ein Viertel der anspruchsberechtigten BerlinerInnen haben einen Antrag auf Leistungen nach der Pflegeversicherung gestellt – von den erwarteten 60.000 Anträgen sind erst 12.000 bei den Pflegekassen eingegangen. Weil die Anträge bis jetzt nur „dürftig fließen“ und die Bearbeitung so aufwendig ist, befürchtet AOK-Sprecher Friedrich Abraham, daß bis zum 1. April, dem Tag, ab dem die Pflegekassen die ambulante Versorgung bezahlen, „noch nicht alle Anträge bearbeitet sind“.
Denn auch der medizinische Dienst der Krankenversicherungen (mdk), der die Pflegebedürftigen untersucht und in eine der drei Pflegestufen eingruppiert, kann die erwartete große Menge an Anträgen in der verbleibenden kurzen Zeit kaum bewältigen. Zwar werden die fünf Ärzte des mdk von 54 externen Gutachtern verstärkt, doch die Personaldecke ist nach wie vor zu dünn. Wer nicht schleunigst seinen Antrag einreicht, könnte am 1. April erst einmal leer ausgehen. Nur wer bisher die Pflege vom Sozialamt finanziert bekommt, kann damit rechnen, daß die Behörde das Geld vorübergehend vorstreckt.
Auf die Frage, warum nicht zusätzliche Gutachter eingesetzt werden, antwortet AOK-Sprecher Abraham, „daß dann die Verwaltungskosten alle Einnahmen der Pflegeversicherung auffräßen“. Man hätte auch nicht früher mit der Begutachtung beginnen können, weil erst Ende November die Kriterien für die Pflegestufen feststanden.
Während sich die Pflegekassen dafür eingesetzt hatten, daß ein Leistungsanspruch bei einer Pflegebedürftigkeit von einer Stunde am Tag besteht, konnte sich Bundesarbeitsminister Norbert Blüm mit seinen restriktiveren Vorstellungen durchsetzen: Nur wer mindestens anderthalb Stunden Pflege am Tag braucht, hat Anspruch auf die Pflegeversicherung.
Daß die Leistungen der Pflegeversicherung nicht ausreichen werden, zeichnet sich längst ab. „Wir schätzen, daß nur die Hälfte des realen Bedarfs abgedeckt wird“, sagt Hans-Joachim Wasel, Leiter des Fachausschusses ambulante Dienste der Liga der Wohlfahrtsverbände. Die Rechnung ist einfach: die unterste Pflegestufe von anderthalb Stunden Pflege pro Tag, kostet rund 1.800 Mark im Monat. Die Pflegekasse zahlt für die ambulante Pflege aber nur 750 Mark monatlich. Den fehlenden Betrag muß der Betroffene entweder selbst aufbringen oder die Sozialhilfe. „Der Sozialhilfeetat wird nur geringfügig entlastet werden“, meint Wasel.
Was bringt also die Pflegeversicherung? „Für diejenigen, bei denen jetzt schon das Sozialamt die Pflege bezahlt, wird sich nicht viel ändern“, schätzt Wasel. Eine Verbesserung tritt bei denjenigen ein, deren Einkommen knapp über der Sozialhilfegrenze liegt und die sich bisher noch keine Pflege leisten konnten, weil sie alles aus der eigenen Tasche hätten bezahlen müssen.
Nach wie vor werden 80 Prozent der Pflegebedürftigen von Angehörigen versorgt. Die Einführung der Pflegeversicherung könnte dazu führen, daß ambulante Pflegedienste stärker in Anspruch genommen werden. Denn wer seine Angehörigen selbst pflegt, bekommt dafür zwar Geld, doch weniger als die Hälfte dessen, was er an „Sachleistung“ bekäme. „Noch können wir nicht absehen, ob sich die Leute für die Sach- oder für die Geldleistung entscheiden“, so Wasel.
In der Zukunft könnten die 112 Sozialstationen der Wohlfahrtsverbände verstärkt Konkurrenz von privaten Pflegediensten bekommen. Anders als das Bundessozialhilfegesetz räumt die Pflegeversicherung den Wohlfahrtsverbänden nämlich keine Vorrangstellung mehr ein. Die Verhandlungen über die Pflegesätze sind noch im Gange. Dorothee Winden
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