■ Lutz Bertram und die Mikroschuld: Beschädigtes Ideal
Das moderne Prinzip der kritischen Öffentlichkeit ist, wie man in der Philosophie sagt, ein „regulatives Ideal“. Sie ist das Salz der Demokratie. In den Medien gibt es immer wieder Menschen, die sich um die bestmögliche Erfüllung dieses nie ganz erreichbaren Ideals verdient machen. Und es gibt solche, die es beschädigen. Lutz Bertram ist durch sein spätes Bekenntnis zu seiner IM-Tätigkeit und dessen Inszenierung von den Förderern zu den Beschädigern gewechselt.
Das Urteil über eine Straftat zieht in der Regel, wie das Wort schon sagt, eine Strafe nach sich. Nach dieser Strafe darf die Tat mit einem gewissen Recht als gesühnt angesehen werden. Das Gewissen hat dann einen Anspruch auf Ruhe. Aber wenn, wie in der DDR, ein bedeutender Teil des Staatsvolkes sich durch mangelndes Heldentum, wenn man so sagen darf, ausgezeichnet hat, dann ist eine immense Summe von individuellen Mikroschulden angehäuft, die eigentlich auf gar keine Weise ausgeglichen werden kann. Gerade die strafrechtlich nicht relevante Schuld kann nicht gesühnt werden. Da sie aber öffentlich ist, wirkt sie wie ein Stigma, wie ein unauslöschbares Brandmal auf der Stirn. Das ist ein echtes Dilemma, denn es gibt keinen kollektiven Ausweg. Es wäre nur das Taktgefühl für den richtigen Zeitpunkt geblieben oder das individuelle, christliche Verzeihen und Vergeben. Aber auch das ist bald erschöpft durch die Kaltblütigkeit und Dreistigkeit ehemaliger Denunzianten und Mitläufer. Bertram gehört inzwischen leider dazu.
Da er als „kritischer Journalist“ nicht rehabilitiert werden kann, verzichtet er auf den ganzen Ethos der moralischen Autonomie und fragt sein Publikum, ob er nicht wenigstens als Gladiator gut war und so für dessen Unterhaltung unentbehrlich ist. Er verwandelt die demokratische Öffentlichkeit, deren Diener und Förderer er gerade noch war, in einen vordemokratischen Zirkus. Die existentielle Frage, was zu tun bleibt, diese Frage, die nur ihn selbst etwas anging, hat er an seine Fans delegiert. Von ihnen wird nun die moralische Entscheidung gefordert. Ähnlich ist inzwischen ORB-Moderator Jürgen Kuttner vorgegangen, der sogar ausdrücklich alle Nicht-Zuhörer und -Betroffenen vor die Tür setzt und sich für die Beurteilung seines Falls das Segment der Öffentlichkeit reserviert, über das er bisher mediale Macht hatte (taz vom 10.1. 1995). Auch eine Art der Geiselnahme.
Bertram wirkt inzwischen seltsam leer, wie nach einer Art Selbstauslöschung. Da scheint kein Wille mehr zu sein, nur noch Reflex. Gespenstisch, wenn Menschen sich so verwandeln. Ein Drama für Bertrams Bewunderer, die er nun auch noch zu Komplizen macht. Der gesunde Skeptizismus seiner Zuhörerschaft, den er selbst kultiviert hat, erhält nun die nihilistische Schlüsselbotschaft: Alle Wahrheit ist Lüge, in allen Gerechten schlägt ein ungerechtes Herz. Der Treibsand unter den Füßen der „mündigen Bürger und aufgeweckten Zeitgenossen“ droht sie zu verschlingen mit all ihren Motiven, Kritik zu schätzen und Offenheit einzuklagen, sich doch irgendwie für eine bessere Gesellschaft zu interessieren und diese zu verwirklichen. Die Welt ist wieder ein Stück häßlicher, als sie sein müßte.
Reginald Grünenberg
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