„Isolation wäre das Schlimmste“

■ Der grüne Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir im Interview über seinen Besuch in der Türkei in der vergangenen Woche

taz: Ihr Besuch hat in der Türkei große Resonanz gefunden. „Dem öffnen sich fast alle Türen“, schwärmte ein deutscher Diplomat.

Cem Özdemir: Ich kenne die Sprache und die Denkart der Menschen hier. Damit kann ich Türen öffnen, die anderen möglicherweise verschlossen bleiben, insbesondere anderen Grünen.

Wurden Sie nicht eher als deutsch-türkisches Original aus dem Schwabenland empfangen?

Sicher hat meine Person eine Rolle gespielt. Aber wir haben auch klarmachen können, daß die Türkei ein entscheidendes Jahr vor sich hat: Entweder Isolation – oder der entscheidende Schritt Richtung Europa. Der erste Schritt dazu wäre, über die innere Demokratisierung der Türkei die Zollunion mit der EU zu erreichen, der zweite dann die glaubwürdige Zusage der Europäischen Union, daß die Türkei integriert werden soll. Das wiederum müßte mit der Zusage der Türkei verbunden sein, das Kurdenproblem demokratisch zu lösen und die Menschenrechtsfrage endlich in Angriff zu nehmen.

Und mit welchen Erkenntnissen fahren Sie nach Hause?

Insbesondere ist mir klargeworden, daß Europa immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert, wenn es in Bosnien-Herzegowina oder Tschetschenien nicht die gleichen Standards anlegt wie sonst in der Welt. Das spielt den Fundamentalisten und Nationalisten hier in der Türkei in die Hände. Übrigens unterschied sich unsere Reise sicher auch darin von anderen, daß wir Verständnis dafür zeigen, daß Reformen nicht einfach sind, wenn man die Probleme 70 Jahre lang nicht in Angriff genommen hat. Aber es müssen erste Schritte unternommen werden, und dazu gehören uneingeschränkt die Menschenrechte.

Anders als Sie haben die Euro- Grünen gefordert, der Europarat solle den Kontakt mit der Türkei abbrechen.

Isolation ist für die Türkei das Schlimmste. Damit stärkt man die Nationalisten und Fundamentalisten, die alles daran setzen, daß die Türkei nicht die notwendigen Schritte unternimmt. Das Abkommen muß unterschrieben werden.

Ist das nicht genau die kritisierte Bonner Position?

Ich sage, daß auf der anderen Seite klargemacht werden soll, was die Türkei unternehmen muß, um mittelfristig in die EU aufgenommen zu werden. Waffenlieferungen der BRD sind kein Mittel, um Konflikte zu deeskalieren.

Auf wen sollte denn gesetzt werden? Auf den vermeintlichen neuen Hoffnungsträger Cem Boyner mit seiner Partei „Neue Demokratische Bewegung“?

Boyner muß man sehr ernst nehmen. Er hat den dringend notwendigen Transformationsprozeß erkannt und wirbt dafür um Mehrheiten.

Sie haben ja auch mit dem kurdischen Parlamentarier Alinak gesprochen.

Ganz bewußt, weil Alinak innerhalb des kurdischen Spektrums den Flügel repräsentiert, der sich im klaren ist, daß es keine einfache Lösung gibt, daß ein eigener Staat die Probleme nicht unbedingt erleichtert. Er ist sich vor allem darüber bewußt, daß die eine Form von Menschenrechtsverletzungen die andere Form von Menschenrechtsverletzungen nicht legitimiert. Interview: Hans Engels, Ankara