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„Lustige“ Ticks

■ betr.: „Schluckauf im Gehirn“, taz vom 4. 1. 95

Es war „ein Hut“ und nicht ein Regenschirm, den „der Mann“ im Titel von Oliver Sacks' Bestseller „mit seiner Frau verwechselte“. Doch eignen sich beide Objekte trefflich zur Abschattung nicht nur schluckaufgeplagter Hirne: Der von Frau Schaub schon vom Titel ihres Artikels nahegelegte Schluß, die ganz alltäglichen kleinen Ticks vom Blinzeln bis zum Nägelkauen ließen sich letztlich auf dieselben neurophysiologischen Ursachen zurückführen wie das äußerst seltene „Tourette-Syndrom“, ist nicht nur wissenschaftlich unhaltbar. Darüber hinaus leistet er einer reaktionären medizinpolitischen Tendenz Vorschub: der Re-Biologisierung von Psychiatrie und klinischer Psychologie bei gleichzeitiger Austrocknung sozialpsychologischer, psychoanalytischer und soziologischer Ansätze. Zwischen neurologischer Störung, neurotischem Symptom und individueller Obsession berührt der „Tick“ den Kern des uralten Leib-Seele- Problems. Der berühmte Berliner Neurologe W. Griesinger formulierte im 19. Jahrhundert, was auch für die heutige Medizin noch gilt: „Und wenn ein Engel herniederstiege und uns die Lösung brächte, wir würden sie nicht verstehen.“ Frau Schaub muß – zumindest „in den Tiefen ihrer Basalganglien“ – diesem Engel begegnet sein, sonst könnte sie nicht fragwürdige biologistische Hypothesen als letzte Wahrheiten präsentieren. Leider hat sie vor lauter Antworten dann die dazugehörigen Fragen vergessen ...

Doch überschreitet ihre feuilletonistisch verpackte Unbedarfheit an einem bestimmten Punkt die Grenze zum blanken Zynismus: Denn die sabbernden, zuckenden, blinzelnden, motorisch irgendwie nicht richtig „tickenden“ Leute, die Frau Schaub beobachtet hat, leiden in ihrer übergroßen Mehrheit gerade nicht an irgendwelchen mysteriösen Dopamin-Mängeln oder „Reptilhirn“-Dysfunktionen, sondern an den chronifizierten Nebenwirkungen genau jener Psychopharmaka, von deren „lindernder Wirkung“ Frau Schaub in gründlicher Verkehrung von Ursache und Wirkung daherplaudert. „Veitstanzartige“ Bewegungen – Teil dessen, was Psychiater tardive Dyskinesien nennen – sind nur eine der zahlreichen Spätschäden von häufig zwangsweise verabreichten Neuroleptika wie dem jetzt auch schon per product-placement in die taz gehievten „Haloperidol“. Bis zu 30 Prozent der Menschen, die länger als sechs Monate mit Neuroleptika behandelt werden, sind mit solchen „Ticks“ geschlagen, manche für den Rest ihres Lebens. Psychiater wissen längst genau, was sie anrichten, und machen keinen Hehl daraus, weil sie sicher sein können, daß die meisten lieber an einen natürlich verursachten „Schluckauf im Gehirn“ als an eine systematische Verstümmelung durch Ärzte glauben wollen. So steht etwa in einem verbreiteten Lehrbuch schnörkellos: „Wir (Psychiater) verwandeln den seelisch leidenden vorübergehend in einen hirnorganisch kranken Menschen, bei der EKT (Elektroschock) nur globaler, dafür kürzer als bei der Pharmakotherapie.“ Verschwiegen wird, daß die Folgen dieser künstlich erzeugten Nervenkrankheiten für viele so „vorübergehend“ nicht sind. Und das sind genau die mit den lustigen Ticks in der „U-Bahn oder in der Warteschlange vor dem Geldschalter“! Thilo von Trotha, Berlin

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