: Kleine Anzeichen von Nachdenklichkeit
■ Die Bündnisgrünen sind nicht so hin- und hergerissen wie die Anwohner, ob das Tempodrom an den Anhalter Bahnhof soll / Aber sie zerbrechen sich den Kopf, wie sie aus dem Konflikt herauskommen
„Ich bin selten so hin- und hergerissen gewesen“, sagte ein junger Mann, der am Tempelhofer Ufer wohnt. „Und den meisten Leuten im Haus geht es ähnlich.“ Anderen Anwohnern fiel die Entscheidung leichter, doch ein klarer Trend ist nicht zu erkennen. Befürworter und Gegner einer Ansiedlung des Tempodrom auf dem geplanten Park am Anhalter Bahnhof hielten sich am Donnerstag abend zahlenmäßig genau die Waage. Doch bei der zweieinhalbstündigen Diskussion, zu der Bündnis 90/Die Grünen auch Tempodrom-Chefin Irene Moessinger und deren Architektin Jutta Kalepky eingeladen hatten, weichten immerhin die verhärteten Fronten ein wenig auf.
Den Anwohnern ist diese einzige Grünfläche in der näheren Umgebung sehr wichtig, das wurde deutlich. Doch zugleich wünschen sich viele auch eine Belebung der „toten Ecke“. Ob trotz des ökologischen Neubaus noch „genug“ Park übrigbleibt, ist aber Ansichtssache.
Auch die Gegner des Standortes räumten ein, daß der Anhalter Bahnhof derzeit attraktiver ist als die Alternative am Schlesischen Busch. Der ehemalige Mauerstreifen zwischen Treptow und Kreuzberg, den Irene Moessinger bei einer Begehung im vergangenen Jahr spontan für „geeignet“ hielt, ist für sie aus finanziellen Gründen die zweite Wahl. „Wenn uns der Senat 20 Millionen Mark für den Neubau gibt und uns jährlich eine Million für den Betrieb zuschießt, dann würden wir es auch dort versuchen“, sagte sie, wohl wissend, daß dies ein frommer Wunsch bleiben wird. Noch ist die Finanzierung des Neubaus nicht gesichert. Mit einer Spendenkampagne und Sponsorengeldern soll der nötige Betrag zusammenkommen. 20 potentielle Geldgeber, mit denen Moessinger Vorgespräche geführt hat, bevorzugten allesamt den Anhalter Bahnhof. „Das Projekt ist ein Risiko, deshalb können wir es nur an einem zentralen Platz verwirklichen“, betonte sie.
„Natürlich ist der Anhalter Bahnhof die einfachere Adresse für die Geldbeschaffung“, sah auch Leo Hölscher ein, der für die Bündnisgrünen in der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung sitzt. „Die ökonomische Frage ist für mich das einzige Argument, das mich überzeugen könnte, dem Tempodrom auf dem Anhalter Bahnhof zuzustimmen“, fügte er hinzu.
Moessinger, der mitten in der Debatte ein Zahnersatz ausfiel („jetzt muß ich ohne Schneidezahn weiterreden“), wies auf die Einzigartigkeit ihres Projektes hin: „Es hat noch nie eine Verbindung von Kultur und Ökologie gegeben.“ Die Leiterin des in der Nähe gelegenen Hebbel-Theaters, Nele Härtling, rief dazu auf, Natur und Kultur nicht als Gegensätze zu betrachten. Eine Kultureinrichtung wie das Tempodrom werde sich positiv auf die Atmosphäre des Stadtteils auswirken.
„Wir sind in einem ziemlich beschissenen Konflikt“, seufzte die Kreuzberger Grüne Barbara Oesterheld. Da auch gestern kein eindeutiges Meinungsbild erkennbar war, schlug Diskussionsleiter Dirk Jordan eine Fortsetzung der Debatte vor: „Wenn wir es ernst meinen, daß das Tempodrom gesichert werden soll, müssen wir gemeinsam überlegen, wie wir aus dieser komplizierten Lage herauskommen.“ Dorothee Winden
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen