An DDR-Zeiten erinnerte nur die Teilnehmerzahl

■ Auch naßkaltes Nieselwetter verhinderte den Ansturm nicht: Mehr als 80.000 bei der Gedenkdemonstration für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht

Schlange stehen, um eine Blume niederlegen zu können: Wer gestern Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – die am 15. Januar 1919 ermordet wurden – gedenken wollte, mußte Zeit mitbringen. Denn wie bereits in den vergangenen Jahren ehrten wieder Zehntausende die Revolutionäre. Dieses Jahr gab es – trotz des naßkalten Wetters – sogar einen absoluten Nachwende-Teilnahmerekord: Über 80.000 Menschen sollen sich auf den Weg zur „Gedenkstätte der Sozialisten“ in Friedrichsfelde gemacht haben. Stundenlang zog die Menschenmenge in dichten Reihen an den Gräbern der beiden Revolutionäre vorbei und legte Blumen am Gedenkstein mit der Aufschrift „Die Toten mahnen uns“ nieder. Auch andere dort begrabene DDR-Größen wie Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl wurden mit Blumen bedacht. Zu den ersten Demonstranten gehörten PDS-Chef Lothar Bisky, Gregor Gysi und Hans Modrow.

Stellenweise glich die Szenerie auf dem Friedhof allerdings eher einem Volksfest als einer politischen Kundgebung. Linke Gruppen jeglicher Couleur hatten ihre Stände aufgebaut und boten DDR-Literatur, Antifa-Broschüren, Glühwein und Thüringer Rostbratwürste an. Ganze Familien und halbe Schulklassen waren zu dem expressionistischen Backsteinmonument gekommen und freuten sich, hier wie jedes Jahr wieder alte Bekannte zu treffen. Auch viele Wessis hatten dieses Jahr den Weg nach Friedrichsfelde gefunden. Dennoch blieben die älteren Jahrgänge Ostberlins in der Überzahl. Für sie ist der Gang zum Grab Luxemburgs und Liebknechts seit Jahrzehnten Tradition. Ein altes Ehepaar versicherte, seit 1946 dabeizusein – „egal, was da für ein Wetter ist“. Liebknecht und Luxemburg würden sie verehren, „weil sie sehr mutig gegen den Krieg eingetreten sind“.

So konsequent ist nicht jeder. Ein 66jähriger Rentner aus Lichtenberg hatte Mitte der achtziger Jahre erst einmal genug von dem „ganzen Brimborium“ gehabt. Er war dieses Jahr das erste Mal nach der Wende wieder in Friedrichsfelde, weil er sich doch „sozialistischen Idealen verbunden“ fühlte, „auch wenn sie die SED mißbraucht hat“. Auf dem Gedenkfriedhof traf er dann prompt zwei ehemalige Kollegen, denen es genau so ging. „Aber von den Genossen habe ich noch keinen gesehen“, versicherte er.

Dabei hätte er die gleich am Friedhofseingang treffen können. Denn dort stand Egon Krenz zusammen mit dem Oktoberklubler Hartmut König und schüttelte Hände, begrüßte alte Damen und warb für Solidarität für seinen kommenden Prozeß. Auch der Ex- Verteidigungsminister Heinz Keßler und der stellvertretende Kommandant der DDR-Grenztruppen, Karl Leonhard, waren vor Ort.

Wenig Zuspruch hatte eine separate Demonstration der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD), die vom Platz der Vereinten Nationen (früher Leninplatz) nach Friedrichsfelde führte. Nur ein paar hundert Menschen mochten für den „echten Sozialismus“ mit den Stalinisten demonstrieren. Und als der mit mehreren Schalmeienkapellen und Unmengen an roten Fahnen gut ausgestatte Demonstrationszug endlich in Friedrichsfelde ankam, mochte den von Singegruppen vorgetragenen Stabreimen wie „Jetzt zeigt der kleine Mann, was er kann“ wenige zuhören. Matthias Bernt