Steckbrief an der Tür der Kommissarin

Morgen muß das Europäische Parlament im Block über die EU-Kommission abstimmen – ein Härtetest / Trotz aller Kritik werten die Anhörungen durch die ParlamentarierInnen die EU-Kommissare auf – als Persönlichkeiten  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Gerade als Sir Leon zu seinem Spezialvortrag über die positiven Auswirkungen des Freihandels anhob, setzte das Röcheln ein. Erst ganz leise, wie schwerer Atem, dann immer lauter. Als Sir Leon die Frage eines spanischen Abgeordneten vollständig beantwortet hatte, wurde die deutsche Übersetzung aus den Kopfhörern von einem gleichmäßigen Schnarchen begleitet. Einen der rund zwei Dutzend Dolmetscher bei der zweieinhalbstündigen Anhörung des britischen EU-Kommissars Sir Leon Brittan vor dem Außenausschuß des Europaparlaments hatte der Schlaf übermannt. Besonders aufregend war es wirklich nicht, was der alte und neue Außenhandelskommissar Leon Brittan den rund hundert Abgeordneten erzählte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kommissaren liebt es Sir Leon, sich bei solchen Auftritten so richtig in Szene zu setzen. Da stört es ihn auch nicht, daß er sich wie ein Abiturient abfragen lassen muß und selbst auf die eigenartigsten Fragen nicht rüde reagieren darf.

Weniger erfahrene Kandidaten haben genau diesen Fehler gemacht. Die Dänin Ritt Bjerregaard oder die Schwedin Anita Gradin haben das Parlament spüren lassen, daß sie die Sache nicht ernst nehmen. Sie waren nicht vorbereitet, kannten sich in ihrem künftigen Fachgebiet nicht aus und wurden von dem Parlamentariern regelrecht auseinandergenommen.

Fünf von 19 Kommissaren bekamen von den Abgeordneten die Note „ungenügend“. Kommissionspräsident Jacques Santer steht nun vor dem Problem, dem Parlament irgendwie entgegenkommen zu müssen. Die Fraktionschefs haben klargemacht, daß er sonst Gefahr läuft, bei der morgigen Abstimmung des Europaparlaments über die Kommission baden zu gehen.

Seit dem Vertrag von Maastricht hat das Europaparlament ein Mitspracherecht bei der Besetzung der Europäischen Kommission. Weil es nun aber nicht schön aussieht, wenn die Europaabgeordneten einzelnen Regierungen ihre Kommissare wegen Unfähigkeit zurückgeben, haben die Staats- und Regierungschefs der Länder der Europäischen Union in Maastricht im Artikel 158 festgeschrieben, daß das Parlament nur die gesamte Kommission im Block ablehnen kann. Um so größer ist jetzt die Aufregung, seit sich herausgestellt hat, daß die Parlamentsabstimmung doch keine bloße Formsache ist. Auch Santer kann niemanden nach Hause schicken. Die Kommissare werden von den Regierungen ernannt und sind schon aus Gründen der nationalen Selbstachtung vom Umtausch ausgeschlossen. Das wissen auch die Abgeordneten und vielleicht hat Parlamentspräsident Klaus Hänsch deshalb zwei weitere Kritikpunkte besonders hervorgehoben. Es gebe zwar fünf Kommissare für Außenpolitik, aber keiner fühle sich zuständig für Entwicklungspolitik. Was um so erstaunlicher ist, als die EU in der klassischen Außenpolitik so gut wie keine Kompetenzen hat, in der Entwicklungspolitik aber desto mehr.

Daran kann Santer ebenso etwas ändern wie an der Fehlbesetzung bei der Frauen- und Gleichstellungspolitik. Die sei, so erklärte Hänsch schroff, bei dem irischen Sozialkommissar Padraig Flynn „am völlig falschen Platz“. Daß Flynn auch sonst nicht unbedingt glänzte, ließ Hänsch durchblicken, sei zu verwinden. Offensichtlich ein Angebot an Santer, Flynn wenigstens den heikelsten Teilbereich wegzunehmen.

EU-Kommissare sind vom Umtausch ausgeschlossen

Auch wenn es für einige Kommissare ziemlich ungewohnt und wenig schmeichelhaft ist, so am Pranger zu stehen, auch wenn der Kommissionspräsident wie ein getretener Hund aufjaulte, unterm Strich hat die Kommission durch die Anhörungen an Profil gewonnen. Zum ersten Mal waren die Spitzen der europäischen Verwaltung gezwungen, sich als Persönlichkeiten mit unterscheidbaren Ideen vorzustellen.

Nicht, daß die einzelnen Kommissare bisher keine eigenen Vorstellungen gehabt hätten. Zwischen Martin Bangemann und Jacques Delors lagen Welten. Aber nach außen hat sich die Kommission stets erfolgreich bemüht, als Kollegium aufzutreten, das die Ministerrats-Beschlüsse der Mitgliedsregierungen unpolitisch und pragmatisch verwaltet – und hat dadurch den Eindruck verstärkt, daß die oft schwer verständlichen Brüsseler Entscheidungen irgendwo aus einer undurchschaubaren Maschine herauströpfeln.

Jetzt tauchen zum ersten Mal Gesichter auf, Namen und Funktionen, wie es sich für eine Regierung gehört. Die Beurteilungsbögen der parlamentarischen Fachausschüsse, zur allgemeinen Überraschung vom Parlamentspräsidenten veröffentlicht und in elf Sprachen ausgelegt, kleben wie Steckbriefe an den neuen Bürotüren: Ritt Bjerregaard, vorgesehen als Umweltkommissarin; dänische Sozialdemokratin, eigenwillig, durchaus umweltbewußt, aber uninformiert, wenig lernbereit und mit kaum verhohlener Verachtung gegenüber dem Europäischen Parlament.

Streitlustig sei sie, hieß es warnend aus Dänemark. Jetzt wissen alle, daß sie vor allem taktisch ungeschickt streitet. Das Parlament werde es nicht wagen, tönte sie, die Kommission zurückzuweisen.

Monika Wulf-Mathies, künftige Regionalkommissarin; ehemalige ÖTV-Vorsitzende, glaubwürdiges soziales Engagement, mit großer Überzeugungskraft für Umwelt, vor allem aber für Frauenrechte, durchwegs positive Beurteilung durch die Abgeordneten, die besonders davon angetan waren, daß die Kommissarin die Unterstützung des Parlaments offensiv sucht.

Yves-Thibault de Silguy, zuständig für Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik; französischer Konservativer. Der Ausschuß begrüßte den Optimismus und das Engagement, kritisierte aber „die zaghafte Haltung“ in politischen Fragen, kurz: ein Verwaltungsfachmann ohne jede politische Vorstellung.

„Begrenztes Fachwissen“ ist gut fürs Parlament

Neil Kinnock, Verkehrskommissar; britischer Ex-Labour-Chef, regierungsunabhängig und faktensicher, mit großer Abneigung gegen bierernste Sitzungen, witzig, aber manchmal politically incorrect.

Anita Gradin, designierte Haushaltskommissarin; schwedische Sozialdemokratin, „begrenztes Fachwissen“ und keine konkreten Vorstellungen, was nach Ansicht der Berichterstatter „in einen Vorteil für das Parlament verwandelt werden“ könne, was wohl heißen soll, daß die Frau leicht über den Tisch zu ziehen ist.

Die wenigen Beispiele verdeutlichen auch die Kehrseite der neuen Offenheit – die unterschiedlichen Maßstäbe, die die parlamentarischen Ausschüsse angelegt haben. In den Umweltausschuß schicken selbst die konservativen Parteien ihre kritischeren Köpfe, damit sie sich dort die Zähne ausbeißen. Dagegen sammelt der Agrarausschuß die Landwirte unter den Volksvertretern auf, die großen Wert darauf legen, daß der Agrarkommissar möglichst keine neuen Ideen mitbringt. Der Österreicher Franz Fischler, selbst Landwirt, löste geradezu Begeisterungsstürme aus, als er das Problem, das die landwirtschaftlichen Kosten für die Osterweiterung der EU darstellen, einfach wegdefinierte. Das sei kein Problem, sagte er, so wie er auch keine Belastung des Trinkwassers durch Pestizide erkennen konnte. Vor dem Umweltausschuß hätte Fischler einen schweren Stand gehabt.

Der Energieausschuß sah es dem Griechen Christos Papoutsis sogar nach, daß er die Energiesteuer versprach und gleichzeitig dafür sorgen will, daß Energie billiger wird. Eine Nachsicht, die möglicherweise damit zu tun hat, daß Papoutsis aus dem Europaparlament kommt und als netter Kerl bekannt ist. Dazu kommt, daß viele Abgeordnete darunter leiden, daß im Parlament soviel geschwafelt wird, und dann vom von einem herzhaft auftretenden Kommissar so beeindruckt sind, daß sie inhaltliche Ungereimtheiten auch mal entschuldigen.

Industriekommissar Martin Bangemann etwa, der sonst selten für seine eigenwillige Politik zwischen blinder Liberalisierung und staatlich geförderter Kartellbildung vom Parlament gelobt wird, bekam vom Wirtschaftsausschuß durchwegs gute Wertungen. Vor allem die deutschen Sozialdemokraten waren regelrecht hingerissen von Bangemanns „Professionalität“. Selbst der Grüne Frieder Otto Wolf war überwältigt: „Nicht der Beste, aber der Beste, den wir auf diesem Posten bekommen können.“