Stalin machte es ähnlich ...

■ Das Chaos in Krieg und Kreml wird immer größer

Moskau (taz) – Mit jedem Tag des Tschetschenienkrieges wächst das Chaos und offenbart sich die Unschlagbarkeit russischer Desorganisation. Menschenrechtsbeauftragter Sergej Kowaljow merkte unlängst zu Recht an, die verlogene Regierungspropaganda lasse es an jeglicher Plausibilität mangeln. Er griff zu für Russen ziemlich starkem Tobak: Selbst die Goebbelssche Propaganda habe sich mehr um Plausibilität bemüht.

Diese Haltung verrät einiges: Dem Kreml ist es egal, was sein eigenes Volk über ihn denkt. Ohnehin sollte es besser den Mund halten. Seine Parallele findet das auf den Schlachtfeldern, wo Trockendockgeneräle kaltblütig Hunderte Soldaten opfern. Die neueste Ausgabe des Millionenblattes Argumenti i Fakti brachte Aussagen eines jungen Verwundeten. Er war mit seinen Leuten beim Aufladen ihrer verletzten Kameraden, als die eigenen Flieger sie bombardierten. Fast alle seien gefallen. Stalin machte es übrigens ähnlich. So läßt sich die Gefährlichkeit des Gegners mühelos aufwerten. Wen wundert es dann, wenn unerfahrene Wehrdienstleistende fliehen oder desertieren? „Erschießen ja, aber nicht zurück in den Kampf“, meint ein Entflohener.

Soldaten wie ihn will man nun zur Rechenschaft ziehen, kündigte die Militärprokuratur an. Nur braucht man diese Willenserklärung nicht übermäßig ernst zu nehmen. Denn wo wollen sie die Jungen finden? Bisher gelang es den Kreisersatzämtern nicht einmal, die Wehrpflichtigen einzuziehen. Wer heute dient, zählt in Rußland ohnehin zum Abschaum. Die sprichwörtliche Trägheit der Bürokraten rettet in diesem Fall Menschenleben. Mütter, die auf der Suche nach ihren Söhnen sind, müssen Höllenqualen ausstehen. Die gleichen Ersatzämter können ihnen keine Auskunft geben. Eine Mutter wollte wenigstens ein „Stückchen ihres Sohnes wiederhaben“, offensichtlich war er in einem Panzer verbrannt.

Gezielte Desinformation setzt Organisation und Ahnung dessen voraus, was wichtig werden könnte. Damit scheint der Kreml überfordert. So sind es wohl eher die Absenz von Moral und die Unfähigkeit, irgend etwas auf die Reihe zu kriegen. Auch in Friedenszeiten regiert das Prinzip der Verantwortungslosigkeit, nur fällt es da nicht so auf. Was ist es anderes, wenn Fallschirmjäger in den Bergen ohne Verpflegung abgesetzt werden und sich für ein Stückchen Brot ergeben? Oder mit jener Spezialeinheit aus dem Ural, der man nach Tagen eine Suppe mit Würmern servierte. Sie schlachteten dann streunende Hunde, die sich zuvor an gefallenen russischen Soldaten gelabt hatten. Oder die Vergewaltigung von Frauen in tschetschenischen Dörfern durch motivierte Elitesoldaten? Sie nahmen sich keine Tschetschenen, das zöge Blutrache nach sich, so begnügten sie sich mit Russinnen. Hält Moskau noch fest am Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, dürfte es der Militärjustiz schwerfallen, Befehlsverweigerer abzuurteilen. Der Krieg verstößt gegen die Verfassung und die Behandlung der Soldaten gegen die Menschenrechte. Wie sollte sich die Armee, deren Fußvolk noch Fußlappen wickelt, da wohl begeistert in die Schlacht werfen? So etwas können sich nur Generalissimi ausdenken, die im 50. Jahr des Sieges über den Hitler-Faschismus allabendlich im Fernsehsessel sich noch einmal in Berlin einmarschieren sehen.

Doch der Gegner sieht heute anders aus, wie Parlamentsvorsitzender Iwan Rybkin enthüllte: „Weiße Strumpfhosen aus dem Baltikum.“ Ein Ressentiment gegen zivilisierte Völker, nebenbei bemerkt. Die Freischärlerinnen aus Vilnius, Riga und Tallinn würden 1.000 Dollar Sold pro Tag erhalten und für jeden Offizier, den sie umlegen, 1.500 Dollar Zuschlag. Widerlichkeit kennt anscheinend keine Grenzen, dafür aber die Russische Föderation: Sie ist von Feinden umzingelt, die dem Kreml unbarmherzig näherrücken: „Bewaffnete Bürgerinnen aus Weißrußland.“ Frauensniper, Slawinnen gegen Slawen! Der Krieg bekommt eine neue Dimension, nicht Orthodoxie gegen Islam, nein, Frauen gegen Männer. Der Finanzminister mußte inzwischen zugeben, Entschädigungen für Soldaten seien im Militärbudget nicht vorgesehen. Darum soll sich das Gesundheitsministerium kümmern. Klaus-Helge Donath