: „Unserer Zeit fehlt der ethische Schwung“
Mit dem Niedergang des Marxismus wird der Mangel an ethischer Fundierung der Linken offensichtlich / Besinnung auf Aufklärung notwendig ■ von Sibylle Tönnies
Wir suchten doch eigentlich immer nur das Gute“, schrieb Rosa Luxemburg aus der Gefangenschaft an ihren Freund Leo Jogiches. Diese Haltung konnte ihr im orthodoxen Marxismus nur nachgesehen werden, und auch in der Studentenbewegung war sie verpönt. Sie galt als ethisch, und das Ethische galt als bourgeois und konterrevolutionär. Dabei fühlte man sich keineswegs als Bösewicht, wenn man als orthodoxer Kommunist die Idee des Guten ablehnte. Man sah sich sehr wohl auf der Seite des Guten, aber nicht als einer abstrakten Idee, sondern eines realen Ablaufs. Man sah sich auf der Seite der Zukunft, des Fortschritts; als Zahn mit einem Rad, das sich mit naturwissenschaftlicher Gesetzlichkeit unaufhaltsam vorwärtsdreht.
Man meinte mit Hegel, in die Geschichte sei ein Motor eingebaut: die Neigung alles Bestehenden, sein Gegenteil hervorzubringen und mit diesem zusammen in ein Drittes, die Synthese, zu purzeln, die dann wiederum ihr Gegenteil hervorbringt und so weiter. Man meinte mit Marx, dieser Motor werde die Verhältnisse zum Kommunismus treiben, denn man ging von dem Drang der Produktionsmittel aus, sich bei zunehmender Technisierung zu monopolisieren und aus der Hand der Unternehmer in die Hände der Arbeiter überzugehen. Marx konnte nicht oft genug feststellen, daß dieser Vorgang geschichtlich notwendig und sein Ziel kein Postulat sei – nichts, wofür man sich als moralischer Mensch einzusetzen habe, sondern ein naturnotwendiges Ereignis.
Nach dieser Lehre verdienten Menschen, die sich aus ethisch-humanitären Gründen, womöglich aus Mitleid, für das Los der Armen einsetzten, leise Verachtung. Sie schienen sich ja sinnlos aufzureiben in dem Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, der als aussichtslos galt, solange man die Vorgänge nicht mit quasi-naturwissenschaftlichen Methoden analysiert und in ihren treibenden Kräften erkannt hatte. Natürlich sammelte diese Ideologie viele Menschen um sich, die (wie Marx selbst) im Grunde moralisch-philanthropisch motiviert waren, das aber nicht zugeben durften und daran gewöhnt wurden, Impulse zu unterdrücken, die diese luftige Herkunft hatten; luftig insofern, als sie nicht aus der materiellen ökonomischen Basis kamen, sondern aus dem Reich der Ideen, das als Metaphysik in Diskredit stand.
Nachdem die „dialektischer Materialismus“ genannte Weltanschauung zusammengebrochen ist, steht es schlecht um die ethische Fundierung der Linken. Die Metaphysikscheu nämlich ist ihnen geblieben; weiterhin glauben sie nicht an die abstrakte Idee des Guten und finden den Weg nicht zurück zum objektiven Idealismus der Aufklärung, der Kant, Lessing, Schiller selbstverständlich war und die Grundlage für all die Verbesserungen bot, die dieses Zeitalter mit sich brachte: die Abschaffung der Folter, der Hexenverfolgung, der Leibeigenschaft. Innerhalb dieser Gedankenwelt könnte man auch die Probleme der Gegenwart angehen. Die Linken fürchten aber, in ein haltlos metaphysisches, bourgeoises Weltbild zurückzufallen, wenn sie an diesem Faden wiederanknüpfen.
Dabei brauchen sie sich nur klarzumachen, daß der Faden der Aufklärung nicht etwa von Marx fallengelassen wurde, sondern schon vor ihm von der Bourgeoisie selbst; er hatte sich dieser Situation anpassen müssen. Die Bourgeoisie nämlich war nach 1800 mit dem politischen Stand der Dinge zufrieden und wollte die fortschrittlichen Ideale der Aufklärung nicht nach unten weitergeben. Sie suchte sich deshalb eine Philosophie, in der die Ideen Freiheit und Gleichheit bodenlos freischwebend schienen, und Marx war gezwungen, seine Forderungen in diesem Zeitgeist nicht als ideengeleitet in Erscheinung treten zu lassen, sondern als materiell notwendige, zukünftige Realität.
Die von ihm vorgefundene Philosophie, die das Freischwebende ablehnte und nur das in der Realität Verkörperte, mit dem Stoff Verschmolzene anerkannte, war Ausdruck der Romantik. Sie wollte Stoff und Idee, Natur und Geist miteinander versöhnt sehen, und in Hegels Geschichtsphilosophie schwebte die Idee des Guten nicht mehr getrennt über den wirklichen Abläufen, sondern war in ihnen inkorporiert. Im preußischen Staat, der während der Napoleonischen Kriege gerade einen moralischen Aufschwung erlebte, meinte Hegel, die verkörperte Idee des Allgemeinwohls vor sich zu haben. So verabschiedete man sich getrost von den oben schwebenden, außen liegenden Idealen. „Freiheit und Gleichheit“, so meinte man, seien durch das terroristische Umschlagen der Französischen Revolution für immer gescheitert – gescheitert an der Tatsache, daß sie „bloße Ideen“ waren, die sich nicht historisch-organisch in den Verhältnissen inkorporiert hatten, sondern willkürlich-künstlich von außen in die Gesellschaft hereingezogen werden sollten.
Das war natürlich auch sehr praktisch anzunehmen in einer Zeit, in der sich die bürgerliche Oberschicht etabliert und kein Interesse hatte, jetzt den vierten Stand unter der Fahne der Freiheit und Gleichheit versammelt zu sehen. Schiller hatte diese Entwicklung vorhergesehen und angesichts der französischen terreur beschwörend gesagt: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei / Und wär er in Ketten geboren / Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei / Noch des Mißbrauchs rasender Toren.“ Doch man ließ sich beirren, und es kam bei Hegel zu einer Rehabilitierung des „Standes“. Die Adelsherrschaft wurde als organisch in die Verhältnisse vorwoben hingestellt und die Idee der Freiheit als lediglich abstrakt und historisch unbegründet zurückgewiesen.
Marx konnte angesichts dieser Verfassung des Zeitgeistes für das Proletariat nicht mit der Forderung eintreten, daß man seine Lage aus ethnisch-humanitären Gründen zu verbessern habe; er fügte sich in die neue Philosophie in der Weise ein, daß er sie revolutionär umwandelte und die Betonung des Materiellen für die Behauptung einer Eigendynamik der ökonomischen Basis nutzbar machte.
Aber die Hindernisse, die dafür verantwortlich sind, daß der gute Geist der Aufklärung jetzt nicht rehabilitiert und für die Gegenwartsprobleme nutzbar gemacht wird, sind gar nicht theoretischer Art. Unserer Zeit fehlt der ethische Schwung des 18. Jahrhunderts. Man ließ sich die Vorstellung von dem in evolutionärem Selbstlauf erreichbaren Zustand des Guten und Richtigen widerstandslos wegnehmen und hat jetzt gar nicht das Bedürfnis, an ihre Stelle wieder das aus moralischen Gründen Anzustrebende zu setzen. Ideeller Nihilismus gilt als die kühnere Haltung, ungeachtet der Tatsache, daß es in dieser Richtung nichts mehr zu wagen gibt, weil die Tabus schon von früheren Generationen weggeräumt wurden. Noch immer rechnet man es sich als denkerische Leistung zu, wenn man das Gute als Ammenmärchen erkennt.
Eine philosophische Nische für die, die sich ein edles Streben bewahrt haben, bietet nur die Diskurstheorie. Sie mutet ihren Schülern aber nicht zu, ihre Metaphysikscheu zu überwinden, sondern stellt das Gute auf tönerne, scheinbar empirisch-materialistische Füße: auf die Tatsache des Sprechens. Aus dieser Tatsache wird ein ohne substantielle Werte auskommender, auf korrekte Prozeduren gestützter Ethik-Ersatz abgeleitet.
Im übrigen wird der Anti-Idealismus weitergepflegt. Unlängst wurde Spinoza in dieser Zeitung (am 30. 12. von Sebastian Weber) wieder dafür gewürdigt, daß er „jede Spur einer jenseitigen Welt, sei es als metaphysische Entität oder als Quelle von Normen und Werten“ tilgte. Seine Nachfolger Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud erhielten Anerkennung für die Fortsetzung dieses Werkes, und es wurde Wert auf die Feststellung gelegt, daß auch nach ihnen die Abbauarbeit noch nicht erledigt sei. An Spinoza, der von Goethe entdeckt worden war, haben schon Hegel und Schopenhauer angeknüpft, und es ist erstaunlich, daß es bis heute als freigeistig gilt, sich gegen die Annahme von vorgegebenen Normen und Werten zu stellen. Schon zu Nietzsches Zeit, zweihundert Jahre nach Spinozas tatsächlich mutiger Leistung, gehörte dazu hauptsächlich die Kühnheit, sich gegen Mutter und Tanten zu erheben. Nietzsche riß nicht in der intellektuellen Welt, sondern in den spießigen Stuben des Bürgertums Tabus herunter – mit der Wirkung, daß dort die basics des Anstands über Bord geworfen wurden und sich der Bürger in seinen machtdurstigen und zerstörerischen Antrieben großartig fühlte. Bis heute bedeutet diese Art von Freigeistigkeit eine Hilfe für alle die, die sich aus häuslichem Mief befreien müssen – in der intellektuellen Welt aber gibt es in dieser Richtung schon lange nichts mehr zu tun.
Niemand ist ein so guter Lehrer dessen, was wirkliche Freigeistigkeit heute zu leisten hat, wie Thomas Mann. Die weltmännische Geste des Normenverächters lag ihm ganz fern; er war Weltmann genug, um sich nicht mit Tabuzerstörung befassen zu müssen; er sah es im Gegenteil als seine Aufgabe an, nach den destruktiven Wirkungen von Schopenhauer und Nietzsche, die den Faschismus möglich gemacht haben, ein verbindliches moralisches Normensystem zu reetablieren. Dazu schienen ihm 1944, während der Nationalsozialismus seine moralische Ungebundenheit unter Beweis stellte, die zehn Gebote geeignet, deren Offenbarung auf dem Berge Sinai er zwar durch den Kakao zog, aber nicht etwa mit dem Ergebnis, daß ihre Gültigkeit dadurch in Frage gestellt wurde – im Gegenteil.
Es ist nicht besonders attraktiv, diese altmodische und wenig originelle Position zu vertreten. Man kann sich auf diese Weise nicht besonders hervortun und verliert das überheblich-verächtliche Image, das man sich in seinem Links-Sein zugelegt hat. Thomas Mann selbst stellte fest, das politische Moralisieren, das Propagieren humanistischer Ideale habe große Nähe – und nicht nur Nähe – zur Platitüde; es sei „geistig undankbar“. Die gegenteilige Haltung biete mehr Schutz vor dem Banalen als die „politische Gutmütigkeit“; aber er fragte, „ob es in politischen Dingen, im Umgang mit menschlicher Bedürftigkeit, so sehr auf Interessantheit ankomme und nicht vielmehr auf Güte“.
Thomas Mann konzedierte auch einem Kritiker, der seine Haltung „almost too good to be true“ genannt hat, es stehe bei ihm tatsächlich „leise fragwürdig“ um diese Haltung, um alles, was Optimismus, Demokratismus, Menschheitsgläubigkeit an ihr sei – sogar um seine „World Citizenship“. Denn seine Bücher seien verzweifelt deutsch und dem Pessimismus eines in Schopenhauers Schule gegangenen Geistes abgewonnen, der zur generös-humanitären Gestik im Grunde wenig geschickt sei. „Geradeheraus“, sagt Thomas Mann, „ich habe nicht viel Glauben, glaube aber auch nicht sehr an den Glauben, sondern weit mehr an die Güte, die ohne Glauben bestehen und geradezu das Produkt des Zweifels sein kann.“ Nietzsches Satz, „das Leben hat keine Richter über sich“, kommentierte Thomas Mann so: „Aber im Menschen kommen doch irgendwie Natur und Leben über sich selbst hinaus, sie verlieren in ihm ihre Unschuld, sie bekommen Geist – und Geist ist die Selbstkritik des Lebens.“
Bleiben wir bei Thomas Mann und greifen noch einmal die Gleichstellung auf, die oben zwischen dem dialektischen Materialismus und dem theoretischen Faschismus vorgenommen wurde. Dazu sagte Thomas Mann: „Doch gilt es hier zu unterscheiden. Der Kommunismus ist eine Idee, deren Wurzeln tiefer reichen als Marxismus und Stalinismus und deren reine Verwirklichung sich der Menschheit immer wieder als Forderung und Aufgabe stellen wird. Der Faschismus aber ist überhaupt keine Idee, sondern eine Schlechtigkeit, der hoffentlich kein Volk, klein oder groß, sich je wieder ergeben wird.“
Die Autorin ist Professorin an der Fachhochschule in Bremen
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