: Tagebuch vor 33 Von Rjurik Iwnew
13. September 1930
Kam heute morgen um zehn nach Moskau zurück. Diese zwei Tage haben mich sehr erschöpft und mir, abgesehen von einem kleinen Verdienst (zwei Vorträge), nichts Gutes gebracht. Mit dem zweiten Vortrag (im Club der Bauarbeiter) war ich zufrieden, mit dem ersten nicht so sehr. Kolja versprach, mich in Moskau zu besuchen. War sehr liebevoll, als wir uns verabschiedeten.
Abend. Zu Hause. Fühlte mich wieder schlechter. Versuchte es noch einmal mit einem Hausmittel. Auf dem Kerosinöfchen kocht Apfeltee. Ich werde mich mit Aspirin vollhauen und ins Bett gehen.
Zum Glück traf ich am Nachmittag Anatoli und nahm ihn mit zu mir, sonst hätte ich es zu Hause gar nicht ausgehalten und wäre, obwohl ich mich so krank fühle, zu Michel oder den Okunjews1 geflüchtet. Ich habe ein immer stärkeres Bedürfnis nach Gesellschaft. Ist das vielleicht ein Zeichen, daß meine Jugend vergeht?
Heute zeigte sich auch Inna Pawlowna mal wieder (im TsBK)2. In der Teepause beklagte sich eines der Mitglieder über seinen schlechten Gesundheitszustand. „Was fehlt dir?“ wurde er gefragt. Etwas verlegen antwortete er: „Ach, es ist wohl mein Magen.“ Woraufhin I. P. (die gerade aus irgendwelchen Ferien zurück war) herausplatzte: „Also mein Magen hat diesen Sommer absolut wunderbar funktioniert!“ ...
23. September
Heute fahre ich nach Serpukow – ich halte dort zwei Vorträge. Kolja ist jetzt in Kaschira. Ich habe ihn vor ein paar Tagen verabschiedet und werde ihn am 28. für einen Tag besuchen. Kaschira ertrinkt in Apfelgärten, ist aber provinziell bis auf die Knochen. Trotzdem würde ich gerne fahren – aber nicht wie heute nach Serpukow, das ohne Kolja allen Charme verloren hat, sondern nach Kaschira.
29. September
Kaschira. Kam gestern abend hier an. Kolja war am verabredeten Ort. Ich glaube, er freute sich über meine Ankunft. Nahm meine Hand fest in seine heiße Hand und hielt sie lange Zeit, ließ sie gar nicht mehr los ...
Heute spazierte ich durch Kaschira, saß in diesem und jenem Park herum; es war ein grauer Morgen, um eins wurde es jedoch heller. Es war schön, die gelben Blätter an den Bäumen zu sehen und zu beobachten, wie sie langsam fallen, wie gelbe Schneeflocken. Ich lag auf einer Bank und sah in den blauen Himmel mit seinem Schleier aus zerrissenen Wolken. Am 10. und 20. Oktober werde ich hier Vorträge halten (wieder über Kamtschatka). Ich erinnere mich, wie kritisch Kosijrew3 meinem Gedicht „Das Stahlschiff“ (über den Parteitag) gegenüber war, das in der letzten Nummer von Krasnaja Niwa erschien. „Du fängst an, das Lob der sechzehn Galoschen zu singen“, sagte er zu mir, und Sven stimmte ihm zu.4
Kürzlich sagte Klitschkow in meiner Gegenwart zu Kirillow5: „Jesenin hat mich bei allen schlechtgemacht und versucht, alle gegen mich aufzubringen, sogar dich. Erinnere dich, was er dir kurz vor seinem Tod über mich erzählt hat“; das ist leider wahr.
Vor nicht allzu langer Zeit las ich (vielmehr: las ich noch einmal) Beletskis Erinnerungen an Rasputin6. Ich dachte: Wenn ich in der Realität solche Leute wie Klujew, Jesenin und Schergin nicht getroffen hätte, wäre ich gar nicht in der Lage, mir auch nur annähernd Leute vom Schlage Rasputins vorzustellen. Aber da ich die drei gut, sogar sehr gut kenne, sehe ich Rasputin lebhaft vor mir. Das soll nicht heißen, daß sie wie Rasputin sind. Das nicht. Aber alle drei sind ohne Zweifel Menschen vom gleichen Schlag, mit dem gleichen inneren Feuer ...
Ich erinnere mich, wie ich gestern abend auf Kaschira zukam. Dunkelheit, Lichter, das Stampfen des Zuges und die Brücke. Brücken haben nachts immer eine umheimliche Wirkung auf mich, als ob ich aus einem Lebensabschnitt in einen anderen überträte.
3. Oktober
Ich hätte nicht gedacht, daß ich mit Anatoli so tief verbunden bin. Gestern brachte ich ihn zum Zug, er fuhr zu seiner Mutter nach Nowotscherkassk; er war krank, hatte 38,7 Fieber und trug nur die Jacke, die ich für ihn einmal vom lieben alten Kirillow bekommen hatte. Obwohl ich Anatoli für seine Sorglosigkeit ausschimpfte, mußte ich doch vor Mitleid zittern, aber auch vor Ärger (schließlich hat er den ganzen Winter über gearbeitet – er hätte sich wirklich etwas kaufen können). Vor allem aber quälte mich, daß ich ihm überhaupt nicht helfen konnte, außer durch das Bezahlen seiner Fahrkarte; ich besitze ja nichts; ich habe alles weggegeben, und mein heutiges Aussehen läßt mich gutgekleideten Menschen beschämt aus dem Wege gehen. Vor allem gibt es ja auch nirgends etwas zu kaufen, und Kleidermarken sind so ein Aufwand.
Ich kam um zehn Uhr morgens am Bahnhof an. Tosik wartete im Restaurant auf mich. Er war so rührend, so menschlich und ernsthaft, sprach so einfach und dabei so schön, in der simplen Sprache der Helden unserer größten Schriftsteller. Ich bewunderte ihn wie nie zuvor, und daß er so krank ist, tat mir sehr weh, und auch, daß er jetzt diese Reise machen mußte und in welchem Zustand er dort ankommen würde und daß seine Krankheit vielleicht schlimmer werden würde. Obwohl ich mir große Mühe gab, wenigstens äußerlich den Schein zu wahren, gelang es mir nicht. Tränen schossen mir in die Augen. Tosik zog sich die Mütze tief in die Stirn, um nicht zu zeigen, daß er auch weinte.
Als wir sein Abteil fanden und uns hinsetzten, war es ganz aus. Selbst jetzt kann ich mich nicht in Ruhe erinnern, sondern muß weinen, genau wie als Kind, als ich Dostojewskis „Arme Leute“ las. Tosik erzählte, wie seine Mutter vor ein paar Jahren, als sie ihn zum Zug nach Moskau brachte, unfähig war, auch nur ein einziges Wort zu sprechen und ihm nur die Wurst, die sie ihm für die Reise mitgeben wollte, in die Tasche stecken konnte. „Jetzt fühle ich mich genauso“, sagte er, „ich will dir so vieles sagen und bringe nichts heraus.“ Aber das kam ihm nur so vor. Tatsächlich sprach er sehr viel, sehr ernst und bewegend. Als das letzte Abfahrtssignal ertönte, umarmte er mich leidenschaftlich und flüsterte: „Du sollst wissen, daß du der einzige bist, den ich je geliebt habe“, und ich fühlte großen Schmerz und Scham darüber, daß ich seine große Liebe nicht genug gewürdigt und ihn oft, ach so oft, betrogen habe.
Ich lief, so lange ich konnte, neben dem fahrenden Zug her und sah seine wunderschönen Augen, die mich durch die schmutzigen Scheiben anblickten.
5. Oktober
Schickte gestern ein Telegramm an Anatoli und habe bisher keine Antwort. Bin sehr besorgt.
6. Oktober
Endlich bekam ich ein Telegramm: „Gesund. Schicke Papyrossi.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. Den ganzen Tag ging ich wie auf Wolken. Das Telegramm war früh morgens gekommen. Als es klopfte, dachte ich: das muß ein Telegramm sein, und zu ungeduldig, um mich anzuziehen, sprang ich im Hemd an die Tür. Vor allem die Bemerkung „Schicke Papyrossi“ hat mich beruhigt. Wenn er an Zigaretten denkt, muß er sich wirklich erholt haben. Trotzdem werde ich nicht völlig beruhigt sein, bevor ich nicht einen Brief in den Händen halte.
15. Oktober
Erhielt einen Brief von Tosik. Er ist gesund, fühlt sich wohl und hat kürzlich eine Lesung seines langen Gedichts gegeben. Er will nach Moskau zurückkommen. Bin sehr froh darüber.
Kolja kam vor ein paar Tagen aus Kaschira zurück. Er hat die Tage bei mir verbracht. Vorgestern fuhr er nach Serpukow. Er hat die Technische Hochschule aufgegeben und will in der Fabrik arbeiten. Vieles in diesen wenigen Tagen war gut – Erfahrung großer Lust, aber trotzdem war es irgendwie irreal! Wir hatten ein Gespräch, das mir zeigt, daß wir uns letztlich nie wirklich verstehen würden.
31. Oktober
Mitternacht. Bekam einen wunderschönen Brief von Tosik, sehr direkt und sehr bildhaft. Warme, gute Gefühle. Wenn ich an ihn denke, fühle ich ein großes Glück.
Kürzlich veranstaltete der Künstlerklub in der Pimenowski einen Schriftsteller- und Theaterabend. Furchtbar. Der einzig witzige Auftritt war der von Adujew (Feuilleton in Versen)7. Er selbst ist sehr unangenehm, wie ein aufgeblasener, kleinkarierter Schauspieler aus der Provinz – aber er hat Talent. Vera Inber ist unglaublich affektiert, ihre Affektiertheit bereitet einem Übelkeit. Aber selbst das war noch erträglich; als sie jedoch zum Schluß irgendeinen Jugendlichen (Vilenski, so scheint es) auf die Bühne ließen, konnte sich das Publikum nicht länger beherrschen und brach in schallendes Gelächter aus. Ganz ernsthaft (und gefühlvoll) deklamierte er irgendwelchen Kitsch. Darunter die Zeile „Und wir werden zum Halten gebracht“ – was das Publikum mit homerischem Gelächter quittierte. Der Autor wunderte sich über das Lachen ...
1. November
Gestern schrieb ich nicht zu Ende – Kolja kam (er kehrte gestern aus Serpukow zurück und konnte mich nirgends finden). Ich freute mich sehr. Wir gingen zusammen ins Bett und flüsterten noch lange miteinander. Heute fährt er für einen Tag nach Kaschira, um seine Papiere zusammenzusammeln und wird da übrigens meinen Vortrag diskutieren.
24. November, Nacht zum 25.
Besuchte M. A. Kusmin8. Er sieht ziemlich gealtert aus, ist aber immer noch sehr witzig und charmant. Normalerweise macht er sich gern über Freunde lustig, auch wenn er ihnen noch so wohl gesonnen ist; heute war er ganz zahm. Jurotschka Jurkun9 zeigte uns seine Sammlung von Tagebüchern unbekannter Leute. (Das ist sein neuestes Steckenpferd.) Und seine Sammlung alter Ansichtskarten. M. A. las Auszüge aus dem Tagebuch eines ausgelassenen Studenten, dessen herziges Konterfei ins Buch eingeklebt war. In einem anderen stand etwas über irgendwelche Bekannten des Schreibers, die auch M. A. und Jurotschka kennen, und es enthielt einige skandalöse Details über eine heutzutage hochrespektierte Dame aus ihrer Jugendzeit. Als Krönung lebt diese Dame scheinbar im gleichen Haus wie sie, in der Spasskaja Straße, einen Stock tiefer!
Diese Tagebuchgeschichte ist ganz und gar Romanmaterial. Übrigens, um das Thema Tagebücher abzuschließen: Als ich bei M. A. und Jurkun ankam, begrüßte mich Jurotschka mit den Worten: „Heute habe ich über dich in Mikhail Alexejewitschs Tagebuch von 1914 gelesen (als ich M. A. in Pawlowsk besuchte).“ Ich kann mir schon vorstellen, was er da beschrieben hat. Bei allen angenehmen Eigenschaften, die er hat: M. A. liebt bissige Bemerkungen. Es bereitet ihm höchstes Vergnügen, und ich bin überzeugt, daß sein Tagebuch voll mit bösem Klatsch ist.
Von M. A. hörte ich, daß die liebe arme Ewdokija Apollonowna Nagrodskaja10 dieses Frühjahr in Paris gestorben ist. Ich erinnere mich noch so gut an einen Abend bei E. A. in der Moika (als M. A. bei ihr wohnte), besonders an einen Maskenball, als ich im roten Dominokostüm erschien (ich hatte gerade Andrei Beljis „Petersburg“ gelesen), und wie ich Tyrkow in Staunen versetzte; ich hatte meine Stimme verstellt und spielte eine Frau, die einen Mann spielt. Und wie ich dann spät in der Nacht zurückging und mir ein eisiger Wind ins Gesicht blies und an der roten Seide unter meinem Mantel riß.
E. A. war immer nett zu mir. Ich werde nie vergessen, wie sie mich besuchte, als ich mit den Pawlows11 in der Simeonowskaja-Straße wohnte und wie sie kräftig darauf anspielte, daß sie gern mit mir „sündigen“ würde. Und wie ich ihre Anspielung nicht verstand und sie dann enttäuscht nach Hause ging. Aber unsere Beziehung hat das nicht beeinträchtigt, und sie ist mir weiterhin mit großer Wärme begegnet.
1931, 24. Januar
Gestern fuhr ich nach Schablowka, um Kolja zu sehen. Er sagte, er würde zu Hause sein, war es dann aber doch nicht. Ich wartete ein wenig und ging dann spazieren. Es war ein unglaubicher Abend. Ich erinnere mich besonders an die Schatten der Bäume auf dem fliederfarbenen Schnee, wie auf einem japanischen Aquarell. Unwillkürlich kamen mir Gedichtzeilen über die Lippen (die Sequenz „Unter goldnen und azurenen Gewölben starrten mich, als wollten sie angreifen, die Lichter eines Dampfschiffes an“)12. Auf meinem Weg zum Bus fiel mir ein junges Mädchen auf, das von einem Jungen abgeholt wurde. Ihre Begegnung war so rührend und zärtlich, daß ich sie unwillkürlich beneiden mußte (nicht die schlechte Art Neid, sondern die gute – auch Neid hat die sprichwörtlichen zwei Seiten der Medaille). Offenbar wußte er, zu welchem Zeitpunkt sie ankommen würde und war losgegangen, um sie abzuholen, und offensichtlich war das jeden Tag so – so kam es mir vor. Ich dachte: das ist ein kleiner Fetzen menschlichen Glücks. Dieser kleine Fetzen Glück war wie ein junger Baum oder ein Fliederbusch, der noch nie geblüht hat. Sie begegneten sich auf besondere Weise, in all ihren Bewegungen lag eine große Anmut. Und ich dachte, daß es auch in meinem Leben ein paar solcher „Fetzen“ Glück gegeben hat. Nur wenige, aber sie haben mir Glauben und Mut für ein ganzes Leben gegeben. Jetzt, wo ich durch eine harte, bittere Zeit in meinem Leben gehe, wärmt mich der Widerschein dieser „Sonnen“ und rettet mich aus der furchtbaren Kälte der Einsamkeit.
Mit Kolja ist alles ein Durcheinander und unklar. Es gibt ein paar Hoffnungsschimmer auf etwas Größeres und Besseres, aber eben nur Schimmer. Und die sind Illusion. Es ist lange her, daß ich so großen Schmerz fühlte. Der Schmerz ist um so größer, als ich dank Kolja unglaubliche Freuden erlebt habe. Wenn diese Freuden nicht gewesen wären, wäre es sicher einfacher. Freude zu verlieren ist so viel schmerzhafter, als sie nie gehabt zu haben. Mir dreht sich der Kopf!
3. Februar
Grauer, schwerer Schmerz! Der Bruch mit Kolja. Unglaublich schmerzhaft. Ich hatte nichts anderes erwartet – und doch ist das ein unerwarteter Schlag für mich. Wie dumm und absurd: in Leningrad wartet Anatoli auf mich, der mich mit grenzenloser Hingabe liebt, und den ich auch sehr liebe – und ich dränge mich hier nach solchem Leiden, jage es wie der Jäger das Wild, ungestüm und gnadenlos. Ich begehre das Unerreichbare, ich quäle mich, foltere mich, will jemanden erobern, der nach Charakter und innerer Fügung vollkommen ungeeignet ist!
Gestern blätterte ich in alten Tagebüchern, kriegte das Jahr 1923 zu Gesicht. Das war doch erst gestern – und doch sind seither sieben Jahre vorbeigejagt! Es ist schrecklich, der Gedanke, wie ungeheuer schnell Zeit vorbeirast! Ich fand Emyljanows Bemerkung in meinen Aufzeichnungen: „Ich liebe dich, weil du in mir die winzige Liebe zum Leben tötest.“ Dachte, wie das Schicksal jetzt Rache nimmt. Emyljanow gegenüber habe ich mich wie ein Verbrecher benommen. Meine einzige Rechtfertigung ist, daß ich ihn nicht geliebt habe. Aber – Gott sei Dank und leider – ist diese Rechtfertigung etwas zu großzügig. Im gleichen Tagebuch fand ich eine Eintragung über Medwesonok, las die Kopie eines Briefes an ihn (wie gut, daß ich diese Briefe in mein Tagebuch kopierte), ich erinnerte mich an diese große Leidenschaft, die jetzt zu Asche geworden ist, und ich dachte: Auch der Schmerz des heutigen Tages wird vorübergehen! Aber trotz der „Vernünftigkeit“ solcher Gedanken – Schmerz bleibt Schmerz, und bis die Zeit die Wunden geheilt hat, bleibt jeder Trost nur Papier.
Bei meinem letzten Besuch in Leningrad hatte ich eine wunderbare Begegnung, direkt wie aus einem Roman von Dostojewski. Ich werde sie ohnehin nie vergessen, aber um sie in all ihrer Klarheit und Farbigkeit zu erinnern, will ich hier eine Skizze davon niederschreiben. (Es würde zu lange dauern, sie in allen Einzelheiten zu beschreiben.) Nachts um zwei Uhr: Ecke Kamenoostrowski-Boulevard, Pesochnaja-Straße. Ich bin auf dem Nachhauseweg. Drei Männer. Ich rauche eine Papyrossa. Einer: „Du bist fremd hier.“ – „Ja.“ Ich schaue ihn mir an: Typ Fahrer, mit Kappe. Gutes Gesicht, aber auch etwas Gangsterhaftes darin. „Hast du vielleicht nichts, wo du die Nacht bleiben kannst?“ Ich sage: „Nein, ich habe etwas zum Übernachten.“ – „Vielleicht willst du mit mir kommen?“ – „Was sollten wir bei dir wohl machen?“ – „Den Ofen heizen und uns unterhalten.“ Ich beschließe, mit ihm zu gehen. Weit die Pesochnajastraße herunter. Noch etwas weiter ist das Haus, wo E. G. Guro13 mal gewohnt hat und ich meinen ersten Roman, „Der traurige Engel“, das erste Mal vorgelesen habe. Ein Torbogen. In der Ferne ein Park. Häuser sind nicht zu sehen. Ich habe ein Portemonnaie mit einer relativ großen Summe Geld bei mir und meine Papiere. (Vorher noch das: Auf meine Frage „Worüber werden wir uns unterhalten?“ – „Bruder, zwei Menschen werden wohl etwas finden können, worüber sie sprechen können. Ich erzähle dir mein Leben, du erzählst mir deins. Jetzt zum Beispiel, habe ich gerade meine Frau verlassen, besser – wozu soll ich lügen – sie hat mich verlassen ... Ich werde dir alles erzählen, und du wirst mir von dir erzählen ...“.)
Er sagt: „Weiter geradeaus.“ Der Weg ist mit tiefem Schnee bedeckt. Wir sinken buchstäblich bis zu den Knien ein. Schließlich eine Hütte. Er öffnet die Tür. Eine Küche. Keiner da. Das Licht ist an. Plötzlich: „Hände hoch.“ Ich lächle zerstreut. Es stellt sich heraus, daß er nur gespaßt hat. Wir gehen in sein Zimmer. Eiskalt. Seit Tagen hat er nicht geheizt. Er heizt den Ofen. Ich zittere vor Kälte. Er wärmt meine Beine mit den Händen. Erzählt mir von sich. Dann fragt er mich nach meinem Leben. Weil ich noch so unter dem Eindruck der Aufregungen stehe, die ich gerade erst hinter mir habe, erzähle ich ihm sehr viel. Ihm treten Tränen in die Augen. „Mein Gott“, ruft er, „mein Leid ist nichts gegen deines.“ Er beugt sich zu mir und küßt mir die Hand.
Nacht. Der Ofen hat sich erhitzt. Wir gingen ins Bett. Er ist sehr zärtlich. Am morgen dringt er auf einen Termin, wann wir uns wiedersehen sollen. Ich ging nicht hin, besuchte ihn auch nicht; nicht am nächsten und nicht am übernächsten Tag, aber ich schrieb ihm einen Brief von Moskau aus und dankte ihm für sein gutes, menschliches Gefühl.
Er ist Arbeiter – Ivan Dmitriev.
8. Februar
Versöhnung mit Kolja. Ich kann wieder frei atmen. Vom 28. Januar (dem Tag, an dem wir uns trennten) bis jetzt war ich ein lebender Leichnam. Ich bewegte mich automatisch, war innerlich vollkommen tot. Als Kolja und ich nach unserer Versöhnung im Bus saßen, saß neben mir ein kleiner, etwa vier- bis fünfjähriger Junge, und ich, der ich sonst Kindern gegenüber ziemlich indifferent bin, fühlte ihm gegenüber plötzlich eine große Zärtlichkeit. Und alle Gesichter im Bus kamen mir lieb und freundlich und gut vor.
Jetzt erinnerte ich mich auch, daß ich, als ich (am 3. Februar) über meinen Schmerz schrieb, auf die folgenden, noch weißen Seiten des Tagebuchs starrte und mir mit quälender Neugier vorzustellen versuchte, ob dort einmal Worte stehen würden, die unsere Versöhnung beschreiben, oder ob es tödliche Worte, Worte für einen Grabstein sein würden. Ach, wie sehr ich mir wünsche, daß Kolja mich ganz verstünde und fühlte, wie lieb er mir ist!
20. März
Er (Klujew) las kürzlich sein Gedicht „Jenseits der Seen“ in Mariya Ignatevnas Wohnung vor. Am 22. wird er sein Gedicht „Verbrannte Erde“ dort lesen14. Ich ging mit Kolja zu M. I. Nach dem Abendessen kam er mit mir nach Hause und blieb über Nacht. Er war lieb und zärtlich. Wenn ich mit Kolja schlafe, fühle ich mich wie der glücklichste Mensch der Welt.
22. April
Vorgestern waren Kolja und ich im Waktangow-Theater und sahen „Sensation“15. Danach gingen wir zu den Sytins. Sie waren sehr freundlich und freuten sich aufrichtig über unseren Besuch. Wir saßen bei ihnen bis um eins. Danach gingen wir zu mir. Koljas Zärtlichkeit rührte mich. In dieser Nacht war ich glücklich wie lange nicht mehr.
6. Mai
Am 1. Mai zog ich für drei Monate in Pudovkins16 Wohnung. A. N. Pudovkin ist nach Berlin gegangen und hat mir sein wunderschönes Zimmer am Sadovaja-Triumfalnaja-Platz überlassen. Kolja fuhr für die Maifeiertage nach Serpukow. Er kam am 4. zurück. Ich holte ihn von der Fabrik ab, und wir gingen zu mir. Ich las ihm ein Gedicht vor, das ich für ihn während seiner Abwesenheit geschrieben hatte: Ich sehne mich, mit dir auf weißen Wassern zu schweben ...
Er mochte es sehr. Wir gingen spät zu Bett; und obwohl wir beide müde waren – emar ba [kodierter Ausdruck, d. Red.]. Es war ein wunderschöner Morgen. Wir tranken zu Hause Kaffee, gingen dann in der Stadt spazieren. Aßen im Herzen-Haus zu Mittag. Nachmittags um drei ging Kolja zur zweiten Schicht in die Fabrik ...
9. April
[Irrtum; müßte 9. Mai heißen; d. Red.] Unerwartet und endgültig Bruch mit Kolja. Mein Herz eine ausgebrannte Wüste. Weil es so unerwartet war, habe ich noch gar keine Zeit gehabt, den Schmerz ganz zu ermessen. Ich fühle nur eins: ein tödlicher Schlag ist einfacher zu ertragen als viele kleine Schnitte und Kratzspuren. Das Bewußtsein, daß dies jetzt der endgültige Bruch ist, hilft mir, den vollen Schmerz zu ertragen. Es war ein Haus, das auf Sand gebaut war. Es ist also besser, sich ein für alle Mal von solchen Illusionen zu befreien.
13. April
[wie oben; müßte 13. Mai heißen] Traf gestern noch einmal Kolja, um mich von ihm für immer zu verabschieden. Er trank sehr viel, dann fuhren wir mit dem Taxi zusammen zu Pawel Wasilew zu einer „Zigeunerin“ bei Malaja Tamarskaja, aber es stellte sich heraus, daß sie nicht da war (es war Pawel Wasilews Idee)17. Dann fuhren wir nach Malvina und blieben dort bis zum Morgen. Pawel ging nach Hause und Kolja kam mit mir in meine Wohnung. Wir hatten ein Gespräch. Beschlossen, uns friedlich zu trennen. Dennoch bleiben Ressentiments. Ich erinnerte mich (unwillkürlich) an unsere frühere Freundschaft. Ich sehne mich nach etwas Unmöglichem ...
16. Mai
Kam gestern gegen drei Uhr nachmittags nach Hause. Anat Dmitr Golovnja18 (früher Pudovkins Kameramann) sagte zu mir: „Ein Mensch mit dicken, buschigen Augenbrauen wollte zu dir.“ Mein Herz setzte aus. Ich begriff sofort, daß es Kolja war. Um sicherzugehen zeigte ich A. D. ein Foto von Kolja, den er auch sofort erkannte. Kein Zweifel also. Kolja war da. Mich ergriff ein großer Ärger darüber, daß ich nicht dagewesen war. Abends um sechs klingelte das Telefon. Ich hob den Hörer ab. Koljas Stimme: „Rjurik, bist du das?“ – „Ja.“ – „Hier ist Kolja. Bist du zu Hause? Kann ich zu dir kommen?“ – „Komm vorbei. Von wo rufst du an?“ – „Von Marija Ignatevna.“19 „Ich bin in 40 Minuten da.“ Nach 40, 50 Minuten klingelte es. Ich öffne. Kolja steht vor mir. Er ergreift meine Hand, lächelt. Ich bleibe neutral. Nach zehn Minuten sagt er: „Wenn ich dich im Spiegel ansehe, habe ich das Gefühl, daß du über mein Kommen verärgert bist.“ Ich begriff, daß das dazu diente, ein Gespräch zu beginnen und fing an zu reden. Ungestüme Bekenntnisse folgten, rückhaltlos.
Kolja erzählte mir viel und fragte mich auch viel nach meiner Vergangenheit. Er interessierte sich besonders für Leonid, zwang mich, ihm ein Foto zu zeigen und fragte, wen ich mehr liebte, ihn oder Leonid. Wir sprachen über Anatoli. „Jeder sollte dich beneiden“, sagte er zu mir, „deine Freunde sind einer besser als der andere.“ – „Anatoli ist auch schöner als ich“, fügte er noch hinzu. Wir sprachen bis tief in die Nacht, gingen ins Bett und sprachen auch dann noch weiter.
Er sagte mir auch: „Wir trennen uns, aber ich weiß, daß keiner besser sein und keiner mich je mehr lieben wird als du. Wir werden keine Beziehung mehr haben, aber wir werden Freunde bleiben.“ Er fragte mich: „Ich bin für immer dein Freund, aber ich weiß nicht, wie du es mit mir halten wirst.“ Ich antwortete ihm, daß ich mich ruhig an ihn erinnern werde, mit der Ruhe einer Landschaft nach dem Sturm. In diesen verrückten Tagen schrieb ich zwei schöne Gedichte. Sie sind mit Blut geschrieben. Nur solche Gedichte sollte man Gedichte nennen.
25. Mai
Brachte Anatoli weg, der nach Leningrad fuhr. Diese vergangenen paar Tage, in denen er in Moskau war, waren wunderschön und beruhigend. Nach all den Stürmen und Schlachten um Liebe und Freundschaft hat sich jetzt alles in eine wunderbare Form gegossen. Ich denke die ganze Zeit, wie schön es wäre, wenn auch meine Beziehung zu Nikolai sich in Zukunft in eine solche Form bringen lassen könnte. [Hoffentlich muß ich das dazugehörige Tagebuch nicht auch noch säzzen! d. sin] Das wäre das Schönste, was mir das Schicksal bescheren könnte: keine Aufregung, keine Qual, nur gute, tiefe Freundschaft.
Anatoli bleibt geschäftlich. Er hat erfolgreich eine Aufgabe abgeschlossen, die seiner Abteilung aufgebürdet wurde (ein paar Waggons Ziegelsteine an eine Fabrik geliefert und so weiter). Und er ist wirklich emotional in seine Arbeit verstrickt. Keine Spur seiner früheren Laxheit. Ich möchte wohl meinen, daß das auch mit meinem Einfluß zu tun hat, das heißt mit meiner endlosen Moralisiererei, die ich auf ihn niederprasseln ließ, als wir zusammen waren.
2. Juni
Zärtlicher Brief von Kolja aus Serpukov. Er schreibt, daß er am 5. direkt zu mir kommen will, so daß ich an dem Abend möglichst zu Hause sein soll. Bevor sein Brief kam, war ich in trauriger, deprimierter Verfassung. Der Brief beglückte mich sehr. Als wäre ich durch eine Meeresbrise erfrischt worden.
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