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Die Kamera, ein Kriechtier

Russische Romantik – „Verborgene Seiten“, ein Film von Aleksandr Sokurov  ■ Von Andrea Kern

Aleksandr Sokurov ist ein Romantiker. Nicht, weil er was übrighätte für deren Ironie. Im Gegenteil: Die über 20 Spiel- und Dokumentarfilme, die der russische Filmemacher bisher gedreht hat, sind ausnahmslos ernst und finster. Ein Romantiker ist Sokurov, weil er von der Idee besessen ist, daß die Kunst nur um ein Winziges neben der Wirklichkeit liegt. Das seltsam Alptraumhafte seiner Filme beruht oftmals auf nur minimalen Verzerrungen und Verzögerungen, mit denen er die Wirklichkeit verfremdet und umkippen läßt. Von sich selbst sagt Sokurov, das, was er mache, sei eigentlich „Anti- Film“. Geschichten interessieren ihn nicht, schnelle Schnitte und üppige Bilder schon gar nicht. Für ihn ist die Kamera eher eine Art Kriechtier.

In „Der zweite Kreis“ (1990) sieht man einen einsamen jungen Mann seinen Vater beerdigen. Die Szene, die bloß von einer nackt baumelnden Glühbirne beleuchtet ist, wird von der Kamera mit einer schier unerträglichen Langsamkeit beobachtet, so daß man den Eindruck hat, der Tod würde hier leibhaftig auf der Stelle treten. Sein Film „Verborgene Seiten“, der letztes Jahr im „Forum“ auf der Berlinale für Furore gesorgt hat und jetzt in die Kinos kommt, beginnt mit einer minutenlangen Einstellung auf eine schäbige Häuserfassade inmitten eines tristen Hafenviertels. Später, ungefähr in der Mitte des Films, bleibt die Kamera abermals für Minuten stehen. Diesmal blickt sie auf ein klassizistisches Gemälde des Franzosen Hubert Robert, das, wie zuvor die Fassade, die gesamte Leinwand einnimmt. Das Gemälde, das damit zum Filmbild wird, wiederholt dabei nicht nur die erste Einstellung, sondern in ihm spiegelt sich – auch das eine höchst romantische Erfindung – der ganze Film.

Die Kamera, verliebt in ihr eigenes Bild versunken, merkt denn auch nicht, wie die Zeit vergeht. Doch selbst als sie sich in Bewegung setzt und in dem katakombenartigen Gewölbe herumwandert, in dem der Film spielt, hat sie es nicht eilig. Sie sucht nichts Bestimmtes. Eher ziellos und unaufdringlich streift sie in gemächlichen Parallelfahrten an den ausgemergelten Gestalten, an den Bettlern, Prostituierten und Verrückten vorbei, die sich in den labyrinthisch miteinander verschachtelten Räumen herumtreiben. Wer sie sind, erfahren wir nicht. Und auch, ob sie noch über der Erde oder schon unter ihr sind, verrät die Kamera, die immer in Kopfhöhe bleibt, nicht.

Im Hintergrund hört man Menschenstimmen, klapperndes Blechgeschirr, Kinderlachen oder den fast irren Schrei einer jungen Frau. Ab und an werden in die profanen Geräusche leise Gustav Mahlers „Kindetotenlieder“ hineingesungen, die ähnlich wie der Wasserdampf, der fast die ganze Zeit über von unten über die Bilder zieht, die Atmosphäre prekär in der Schwebe halten zwischen schäbig und sakral.

Die verhärmten Gesichter der Menschen, ihre rotentzündeten Augen und die mageren Körper, die man unter den zerrissenen Kleidern sieht, erinnern sehr an „Tage der Sonnenfinsternis“ (1988) von Sokurov, wo er vielleicht noch entschiedener die Menschen mit ihren stummen Blicken vor der Kamera schier erstarren läßt. Die Hauptfigur ist dort ein junger russischer Kinderarzt, der gegen seinen Willen Schuld auf sich lädt, da er jedem, der mit ihm Kontakt hat, irgendwie Unheil bringt. Eine der wenigen dramatisch gestalteten Szenen, die es in „Verborgene Seiten“ gibt, erzählt in gewisser Weise das Gegenstück dazu: Ihr Held ist der junge Raskolnikow, jener Verbrecher aus Dostojewskis „Schuld und Sühne“, der in einem Anfall von Größenwahn die reiche Lisaweta umbringt und glaubt, er habe gar keine Schuld. Sokurov zitiert die berühmte Szene, in der die todkranke Sonja versucht, Raskolnikow dazu zu bringen, seine Schuld öffentlich zu gestehen, um so wenigstens seine Seele zu retten. Spätestens an der Art, wie Sokurov die Gestalt Sonjas ins Bild bringt, von der er selbst sagt, sie sei für ihn die wichtigste Figur des Films, versteht man, weshalb Sokurov immer so vehement darauf besteht, kein Schüler von Andrej Tarkowskij zu sein. Das harte Licht, das von vorne auf ihr Gesicht fällt, macht es flach und konturlos. Und ihre matten Augen starren so leer geradeaus, als wären es schon die einer Toten. Bei Tarkowskij dagegen stehen die Frauen – man denke nur an Margarita Terechowa aus „Serkalo“ und an Domiziana Giordano aus „Nostalghia“ – immer auch für ein Versprechen, das den Film überschreitet. Ihre Schönheit ist fast metaphysischer Natur, die Spur einer anderen Welt. Diesen Glanz wird man in den Filmen von Sokurov vergeblich suchen. Sie sind weder schwermütig noch schön. Das bißchen Farbe, das Sokurov verwendet, ist fast immer schon zuviel. Wer sich seine Filme ansieht, braucht mehr als nur zwei Augen im Kopf.

„Verborgene Seiten“ von Aleksandr Sokurov läuft ab heute im Moviemento, in der Brotfabrik und im Babylon (Mitte).

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