: Schneemanns Recht auf Selbstbestimmung
■ Landgericht Potsdam kassierte Täterschutz-Urteil im IM-Prozeß
Berlin (taz) – Das Landgericht Potsdam hat ein Urteil des Amtsgerichts Potsdam aufgehoben, das im Juni vergangenen Jahres einem IM der Stasi das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ zugestanden und einem Bürger, der drei Jahre bespitzelt worden war, verboten hatte, den Namen des Spitzels öffentlich zu verbreiten. Hatte das Amtsgericht noch den Schutz des Persönlichkeitsinteresses des ehemaligen IM „Schneemann“ höher als das Informationsinteresse der Öffentlichkeit bewertet, so kam das Landgericht zur entgegengesetzten Ansicht. Entscheidend für den Ausgang des sogenannten „Verfügungsverfahrens“ waren zwei Dokumente, die dem Gericht von den Anwälten des Bespitzelten vorgelegt wurden: eine schriftliche Verpflichtungserklärung des IM „Schneemann“ aus dem Jahre 1954 und eine detaillierte „Klarnamenaufdeckung“ aus der Gauck-Behörde.
Die Vorgeschichte: Beim Studium seiner Stasi-Akten entdeckt Claus-Peter K., daß er über einen längeren Zeitraum von einem Nachbarn beobachtet wurde, mit dem er freundschaftlichen Umgang pflegte. Eine Nachfrage bei der Gauck-Behörde schafft Gewißheit: Nachbar Peter L. war für das MfS als IM „Schneemann“ aktiv und lieferte fleißig Berichte darüber, was er im Haus gegenüber gesehen und gehört hatte.
Ein Spitzel will nicht Spitzel genannt werden
Claus-Peter K. schreibt ein Spottgedicht auf seinen Nachbarn, den IM, doch bevor er das Werk unter die Leute bringen kann, hat Peter L. schon eine einstweilige Verfügung erwirkt, mit der Claus-Peter K. verboten wird, den IM als einen IM zu bezeichnen. Durch die mögliche Verbreitung der anstößigen Behauptungen, so das Potsdamer Amtsgericht, würden „allgemeine Persönlichkeitsrechte“ des Klägers verletzt, und zwar in der „Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung, selbst wenn die Behauptungen der Wahrheit entsprechen“.
Die Berufungsverhandlung vor dem Potsdamer Landgericht begann mit einem Antrag des Rechtsanwalts von IM „Schneemann“, die Öffentlichkeit vom Verfahren auszuschließen. Nach kurzer Beratung lehnte die Kammer den Antrag ab, da, so der Vorsitzende Richter Pliester, „keine intimen Einzelheiten“ zu erwarten seien. Da der klagende IM „Schneemann“ in seinem Schriftsatz behauptet hatte, die vorgelegten Unterlagen stammten gar nicht aus der Gauck-Behörde, es handele sich vielmehr „um Mutmaßungen und Spekulationen des Beklagten“, der sich „in das Reich der Phantasie“ begeben habe, um seinem Nachbarn „mutwillig“ zu schaden, wurde der beklagte Claus-Peter K. vom Gericht befragt, wie er an die Akten gekommen sei, ob er die Kopien selbst angefertigt habe oder ob sie von einem Mitarbeiter der Gauck-Behörde erstellt worden seien. Er habe seine Akte, versicherte der beklagte Claus-Peter K., immer unter Bewachung gelesen und sie dann „komplett kopieren lassen“. Worauf der Vorsitzende Richter bemerkte, die Kammer habe auch zu prüfen, „ob die Möglichkeit besteht, daß sich einer hinsetzt und eine Akte fälscht“.
Schneemanns Schlappe vor dem Landgericht
Der Mann, der das Verfahren in Gang gebracht hatte, IM „Schneemann“, war nicht zur Verhandlung erschienen. Es blieb ihm erspart, den entscheidenden Moment der Verhandlung live zu erleben: die Übergabe einer Kopie der handschriftlichen Verpflichtungserklärung, die er vor dreißig Jahren unterschrieben hatte, durch die Anwälte des Beklagten an das Gericht sowie einer „Klarnamenaufdeckung“ der Gauck-Behörde mit detaillierten Quellenangaben. So war es dann keine Überraschung, als das Gericht zur Urteilsverkündung schritt: Die einstweilige Verfügung des Amtsgerichts wurde aufgehoben, das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, das dem IM in der ersten Instanz zugesprochen worden war, gegen das Informationsinteresse der Öffentlichkeit neu gewichtet: „Die Kammer erachtet die Tätigkeit eines IM nicht als einem Persönlichkeitsbereich zugehörig, über den man nicht sprechen darf.“ Doch sollte das Urteil, setzte der Vorsitzende Richter hinzu, nicht so verstanden werden, als wolle die Kammer „einem allgemeinen Denunziantentum Vorschub leisten“. Der Anwalt des IM „Schneemann“, der sich zu Anfang der Verhandlung noch überaus naßforsch gegeben hatte, wollte „keine Erklärung abgeben“. Die Anwälte des beklagten Claus-Peter K., der seinen „Glauben an den Rechtsstaat wiedergewonnen“ hat, erklärten, sie hätten Strafanzeige wegen der Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen gegen den klagenden Peter L. erstattet, der sich selbst an Eides Statt bescheinigt hatte, er habe nie für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet.
So ist eine Runde in einem Verfahren aus der Serie „Täter gegen Opfer“ vorerst beendet. Der Fall IM „Schneemann“ ist es noch lange nicht. Henryk M. Broder
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen