■ Ein Vampir-Interview und seine Folgen im Nachtleben
: Garantiert kein Kunstblut

New York (taz) – Susan ist 31 und arbeitslos und verdient sich ihre Miete nackt. Denis ist 29 und arbeitslos und tut es Susan gleich. Wenn in Manhattan die letzten Lichter ausgeknipst werden, sniffen die beiden Freunde aus dem East Village sich mit Koks eine Portion Selbstbewußtsein ins Hirn – und fahren zur Arbeit. An diesem Dienstag ins „Jackie 60“, New Yorks hippstem Club im Schlachthofviertel.

Das „Jackie 60“ gilt seit drei Jahren als die Zitadelle des New Yorker Nachtlebens – weil es nur dienstags geöffnet hat, die besten DJs dort Platten auflegen, die Besucher sich so schrill wie machbar auftakeln müssen, um ja eingelassen zu werden – und weil jede Nacht ein Motto hat. In dieser lautet es „Written in Blood“.

Am frühen Morgen endet die Endlosschleife aus House- und Technobässen. Ein gregorianischer Männerchor hebt an zum Gesang. Spot an, on stage Susan und Denis, zwei stadtbekannte Scherzkekse, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Susan hat ihren Eckzähnen den Vampirlook verpaßt, Lacklederstilettos um die Fesseln geschnallt – und trägt anonsten nichts. Außer mehrere Ringe an ihren Schamlippen. Denis ist flächendeckend gepierct, von der Zungenspitze bis zur Eichel, an Brustwarzen, Stirn und Fußzehen sogar. Dazu trägt er ein schmuckes Ganzkörpertattoo plus Lenin-Bart. Susan plappert übers Mikrophon wie eine Krankenschwester, die dem Patienten die Angst nehmen will, streift sich Handschuhe über, die jeder Autofahrer parat haben muß – und durchsticht live und langsam Denis' Arm mit zuvor desinfizierten Stecknadeln. Zwanzigmal. Ihr bereitet das wahre Freude, ihm entlockt das nicht ein einziges Zucken. Er guckt, als läge er im Mausoleum: leblos. Um uns von der Livehaftigkeit – garantiert kein Kunstblut – zu überzeugen, durchbohrt sie ihre Schamlippen, ebenfalls mit einer Stecknadel. Nach ein paar Sekunden zieht sie die wieder raus, Blut perlt ihre Beine hinab.

Den ersten Nightclubbern dreht es bereits den Magen um, als Susan mit einer Rasierklinge kleine Kreuze in Denis' Brust ritzt. Es blutet, wie könnte es anders sein, und Denis breitet die Arme aus: am Kreuz ohne Kreuz. Die Tanzfläche leert sich zusehends, das haut die stärkste Drag Queen aus den Pumps: Denis schraubt eine Glühbirne aus der Fassung, haut sie am Boden klein – und verspeist sie, live und langsam. Susan hält das Mikrophon vor Denis' Mund. Den Splitterbrei spült er mit Erdbeermilich hinunter und zeigt seine leicht blutende Zunge.

Susan plappert über die betretene Stimmung unter den Gaffern hinweg, Denis schweigt. Mit mönchischer Ruhe legt er sein Gesicht in einen Scherbenhaufen als sei's ein Federkissen. Und Susan steigt auf seinen Hinterkopf. Sie macht das dreimal, weil sie nicht die Balance halten kann. Denis steht wieder auf, im Zeitlupentempo. Er blutet auf der Stirn, ein bißchen nur. „Wieso stoppt die denn niemand?“ ruft ein Student aus Texas.

Dort kämen Susan und Denis wegen sowas wohl auf den elektrischen Stuhl, in New York höchstens in die Klatschspalten von Village Voice und Paper. Von Zwischenrufen unbeirrt, hängt sich Denis eine Mini-Kettensäge an seinen Eichelring und schwenkt sie wild herum; sein Schwanz hängt ihm zwischenzeitlich in den Kniekehlen. Susan klatscht, ein paar Gaffer gröhlen groggy, andere stehen da wie gelähmt und rauchen den Filter mit.

„Written in Blood“ endet damit, daß Denis Susan in ihre Armbeuge piekst und ein Glas unter den Blutstrahl hält. So lange, bis das Glas voll ist. Susan hebt das Glas und trinkt ihr Blut: „Cheerio!“ Thorsten Schmitz