: Kein Demonstrant ist bußfertig
■ Wegen Protest gegen EU-Gipfel 779 Bußgeldbescheide
Essen (taz) – Als größte Massenfestnahme der Nachkriegszeit wird der ansonsten unspektakuläre Essener EU-Gipfel dereinst in die Geschichte eingehen. Von „940 in Gewahrsam genommenen Personen“ spricht die Essener Polizei in ihrer „Abschlußbilanz“. Die meisten von ihnen, die am 10. Dezember im vergangenen Jahr stundenlang in der Essener Innenstadt von starken Polizeikräften eingekesselt und später festgenommen wurden, erhielten inzwischen Post von der Staatsmacht. Wegen „Teilnahme an einer verbotenen Demonstration“ will die Polizei gegen alle über 16jährigen (779) Festgenommenen ein Bußgeldverfahren durchsetzen. Weiter 31 Personen sehen sich mit einem Strafverfahren konfrontiert.
Das polizeiliche Verbot der Demo hatte das Gelsenkirchener Verwaltungsgericht ebenso für rechtens erklärt wie das Oberverwaltungsgericht Münster. Kurz vor Demo-Beginn war die Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden – allerdings ohne materielle Prüfung. Nun muß das höchste Gericht in der Hauptsache entscheiden. Doch das kann dauern. Der das „Essener Bündnis gegen den EU-Gipfel“ vertretende Anwalt Peter Ludwig rechnet erst „in einigen Jahren“ mit einer Entscheidung. Nimmt man das Brokdorf-Urteil zum Maßstab, dann bestehen durchaus gute Chancen, daß die Karlsruher Richter auch das Essener Demo-Verbot im nachhinein kassieren. Für die jetzt von der Polizei verfolgten Personen ist das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht indes ohne Belang, weil das Demo-Verbot juristisch wirksam war.
Etwa 200 der eingekesselten Personen trafen sich am vergangenen Wochenende in Essen. Freiwillig zahlen wollen sie alle nicht. Sollte die Polizei den inzwischen verschickten Anhörungsbogen tatsächlich Bußgeldbescheide folgen lassen, dürften auf die Essener Justiz Hunderte von Gerichtsverfahren zukommen. Verhindern kann das nur noch eine „gewisse ökonomische Vernunft“ (Rechtsanwalt) der Behörden. Einige der Festgenommen sind entschlossen, die Polizei wegen Freiheitsberaubung zu verklagen und Schmerzensgeld für die stundenlange Festnahme durchzusetzen. Walter Jakobs
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen