: Heimkehr in ein fremdes Land
Im Herbst 1993 wurde Dalma H. von Kroaten aus Vitez vertrieben. Nun besucht sie zum erstenmal ihre Heimat – und findet sie nicht mehr. ■ Aus Vitez Erich Rathfelder
Die Hauseinfahrt ist im Schatten der Dämmerung kaum noch auszumachen. Die Spuren der Autos und Lastwagen, die zur britischen Basis von Vitez-Stara fahren, haben hohe Bodenwellen aufgeworfen. Den Schneematsch auf der Straße bemerkt Dalma H. nicht mehr. Wie in Trance geht sie auf das Haus zu, in dem sie aufgewachsen ist, wo sie vor drei Jahren noch ein friedliches Familienleben führte. Da sei ihr in einem kurzen Augenblick durch den Kopf geschossen, wie schön es doch gewesen sei, als sie, kaum fünfzehn Jahre alt, von hier aus in die Schule ging, wird sie später sagen. Damals, als ihre Mutter noch lebte, als ihr Vater noch in seiner Werkstatt arbeitete, als ihr Bruder sich noch hinter seinem Computer vergrub, damals, als alles noch ruhig war.
In der Zeit vor dem Krieg unterschied sich das Leben in Stara kaum von jenem in anderen Ländern oder anderen Regionen. Wie anders war noch diese Zeit, als keiner ihrer Freunde sie danach fragte, welcher Religion oder welcher Nationalität sie denn angehörte. „Wir wußten es voneinander nicht einmal“, sagt sie. Und als 1991 die schlimmen Nachrichten vom Krieg in Slowenien und Kroatien in Zentralbosnien eintrafen, konnte das niemand glauben. Hier, so sagten die Leute, hier wird das nie passieren, wir hier halten zusammen, egal ob wir Serben, Kroaten, Muslime oder sonstwas sind.
Dalmas Schritte verlangsamen sich, vor dem Garten bleibt sie stehen. Sie blickt auf die Stelle, an der ihre Mutter im September 1993 starb, Opfer jener Granaten, die vom nicht weit entfernten, damals kroatisch dominierten Teil der Stadt abgeschossen wurden. Dalma sieht auf die Tür, wo das Namensschild ihrer Familie durch ein anderes ersetzt worden ist. Ihr Blick erstarrt, als hinter dem Küchenfenster Licht angeschaltet wird und ein Schimmer auf sie fällt. Sie sieht noch, daß an der Kücheneinrichtung nichts verändert worden ist. Ein fremder Mann geht zum Fenster und blickt hinaus – auf sie. „Unsere Blicke haben sich nur kurz getroffen“, wird Dalma sagen, „er spürte, daß ich hierher gehöre, und drehte sich um. Mir fuhr ein Stich durchs Herz.“
Dalma bleibt jedoch gefaßt. Sie ist nun das erste Mal zurückgekommen an diesen Ort, an dem vor so kurzer Zeit ihr Leben eine radikale Wende nahm. Nach dem Tod ihrer Mutter sei es zu weiteren Angriffen der Kroatenmiliz HVO gekommen. Schließlich hätten sie, ihr Vater, ihr Bruder und alle muslimischen Nachbarn aus diesem Viertel fliehen müssen. Dalma deutet auf ein Haus, das jetzt mit Nato- Stacheldraht umgeben ist. „Hier, im Haus der Familie F., wohnen jetzt britische Offiziere“, sagt sie. Am Eingang ist noch das alte Namensschild erhalten, durch den Vorhang ist ein Tito-Bild zu sehen.
Während des Höhepunkts der Kämpfe im Frühherbst 1993 hatte die Familie F. viele Flüchtlinge aus den anderen Teilen der Stadt aufgenommen. „Wir fühlten uns damals trotz der Kämpfe hier sicher“, sagt Dalma. „Unsere Häuser sind ja nur fünf Meter von der britischen Basis entfernt.“ Sie deutet auf die hohe Schutzmauer, die Wachen und die Panzer. Man kann verstehen, daß niemand sich einen Angriff der kroatischen HVO hier unter den Augen der UNO-Soldaten hätte vorstellen können.
Als sie wieder in das Auto gestiegen ist, ringt sich Dalma ein Lächeln ab. „Es tut gut, sich damit zu konfrontieren.“ Die Leute, die jetzt in ihrem Haus lebten, seien ja auch Flüchtlinge, wahrscheinlich Kroaten, die aus den muslimisch dominierten Gebieten der Region vertrieben worden seien. „Denen kann man nichts vorwerfen“, meint Dalma, „denen ging es ähnlich wie uns auch.“ Sie lächelt sogar weiter, als sie über Kopfschmerzen zu klagen beginnt. Aber plötzlich bricht es aus ihr heraus: „Es ist alles so verwirrend!“
Auf der Hauptstraße sind kaum Menschen zu sehen. Das Café, einstmals von einer „Serbin aus Travnik“ geleitet, ist verwaist, die Fensterscheiben zerbrochen. In Stara vertrieben die Extremisten aus der Westherzegowina im Sommer 1993 die Muslime. Eine einheitliche Polizei gab es damals nicht mehr; die kroatischen Polizisten hatten kein Interesse daran, die Verbrechen aufzuklären, und muslimische Polizisten konnten sich damals nicht mehr in kroatische Wohngegenden trauen. Einige ehemalige Bewohner stehen nun vor den von Kroaten bewohnten Häusern. Ein älterer Mann wiegt den Kopf auf die Frage, wie er sich bei dieser Rückkehr fühle. „Kein Mensch ist mehr glücklich“, sagt er schließlich. „Früher war alles doch viel schöner.“ Und mit Achselzucken führt er aus, daß „wohl alles Politik“ gewesen ist, was geschehen ist. „Das kam doch alles von draußen rein.“ Ein Zusammenleben mit den einstigen Nachbarn könne er sich aber nicht mehr vorstellen. „Dazu ist zuviel passiert. Die Kroaten sollen mit Kroaten und die Muslime mit Muslimen leben.“
In der ganzen Region um Vitez gibt es jetzt unzählige „ethnisch reine“ kroatische Siedlungen. Auch die umliegenden Dörfer sind „gesäubert“. Doch andererseits ist dieses Gebiet eine kroatische Enklave im muslimisch kontrollierten Gebiet Zentralbosniens. Alle kroatischen Dörfer sind dort zerstört und die Menschen vertrieben worden. Viele dieser Vertriebenen wurden dann wiederum in den Häusern der muslimischen Vertriebenen angesiedelt. „Es ist alles so verwirrend!“
Dalma will nicht mehr in Vitez leben
Dalma blickt während der Rückfahrt durch das „kroatische“ Vitez aus dem Fenster. Sie sieht die vertrauten Straßen und Plätze, das Hotel, die Tankstelle, die Geschäfte. Ohne den Schutz ausländischer Reporter würde sie sich nicht mehr hierherwagen. „Die muslimisch-kroatische Föderation ist ja gut, aber sie gibt uns unser Haus nicht zurück“, sagt sie. „Und eigentlich will ich gar nicht mehr hier leben. In Zenica, wo ich jetzt bei meiner Großmutter wohne, fühle ich mich einfach wohler.“ Ihr Bruder sei nach Travnik gegangen, ihr Vater habe wieder geheiratet, er lebe auch in Zenica. „Ich habe Glück gehabt. Ich arbeite als Dolmetscherin für eine internationale Hilfsorganisation und verdiene so mein eigenes Geld. Dies Möglichkeit haben ja nur wenige.“
Langsam nähert sich das Auto einer Kontrollstelle. UNO-Soldaten stehen da, ein HVO-Soldat und ein Soldat der bosnischen Armee. Es ist der „Grenzübergang“ zu der muslimischen Enklave innerhalb der kroatischen Enklave. An dieser Stelle beginnt Stari Vitez, Alt- Vitez, das von der bosnischen Armee kontrolliert wird. Hier haben 12.000 Muslime über ein Jahr lang den massiven Angriffen der HVO standgehalten. „Sie hatten nur wenig zu essen, keine Unterstützung von außen“, erklärt Dalma. Der Preis für den Widerstand war hoch. Die meisten Häuser der Altstadt sind von Granateinschlägen zerstört, nur wenige wurden wieder aufgebaut. Es gebe seit der Bildung der kroatisch-bosnischen Föderation vor knapp einem Jahr zwar wieder einen Bus, der regelmäßig nach Zenica fahre – „in den kroatischen Teil von Vitez aber gehen wir nicht“, sagt die Verkäuferin in einem Laden, in dem nun wieder alles zu kaufen ist. Das sei zu gefährlich. Viele Frauen seien angepöbelt worden.
Wie Vitez sind viele Städte Bosniens geteilt. Durch Novi Travnik zieht sich eine richtige Mauer, wie auch durch manche Dörfer der Region. Gornji Vakuf ist ebenso geteilt wie Mostar oder Sarajevo, die Demarkationslinien sind zu fast unüberwindlichen Hindernissen geworden. „Daran hat die kroatisch-muslimische Föderation nichts geändert“, sagt Major David Falcke, der Pressesprecher des britischen UNO-Bataillons. Er ist dennoch optimistisch für die Zukunft: „Der UNO ist es gelungen, dämpfend auf den Konflikt hier einzuwirken.“ Die gemischten Checkpoints arbeiteten mit Erfolg, die Kampfhandlungen seien beendet worden, die Versorgung der Bürger in einem gewissen Umfang wiederhergestellt, die Lieferung von humanitärer Hilfe an die Bedürftigen werde in dieser Region nicht mehr behindert.
Dalma ist unruhig geworden. Sie blickt dem britischen Offizier in die Augen. Und sie stellt ihm die Frage, wie es denn möglich gewesen sein könne, unter den Augen der britischen Truppe so ein Unrecht zu vollbringen, wie es gegenüber ihrer Familie geschehen sei. Ohne daß Falcke angesichts des fragenden Gesichts verlegen wird, stellt er den Standpunkt der Unprofor ohne Zaudern dar: Die UNO-Truppen hätten kein Mandat, in die Kämpfe der „Kriegsparteien“ einzugreifen. Es gehe ihnen nicht darum, die Zivilisten der einen oder anderen Partei zu schützen, also parteiisch zu handeln. So leid ihm auch persönlich das Schicksal der Menschen tue, er bleibe ein Offizier, der seit vier Monaten hier im Kriegsgebiet seine Pflicht erfülle. Er habe die Aufgabe, den UNO-Auftrag zu befolgen und nichts anderes. „Und der lautet nun einmal, daß wir alle Kriegsparteien als gleichberechtigt anerkennen und versuchen, auf sie einzuwirken. Wir wollen Waffenstillstände vermitteln und bewirken, daß Verhandlungen aufgenommen werden.“
„Alle Kriegsparteien sind also gleich.“ Dalma schüttelt den Kopf. Sie habe wie ihre ganze Familie niemals daran gedacht, Krieg zu erleben. „Wir waren doch glücklich. Andere haben den Krieg geführt, und wir mußten dafür bezahlen.“ Der Krieg habe ihr Leben und ihr Bewußtsein verändert – aber nicht nur im Negativen. Früher habe sie Bosnien gar nicht gekannt. Jetzt fühle sie sich als Bosnierin, als Muslimanin. Sie habe ihren Job, sie wolle irgendwann im Ausland studieren. „Ich werde nach dem Studium wieder zurückkommen“, beteuert Dalma. „Ich will hier leben.“ Auf der Straße stehen ihr plötzlich zwei gleichaltrige Frauen gegenüber. Sie sind Kroatinnen. „Ich kenne sie“, murmelt Dalma. Die Blicke der Bekannten gehen ins Leere. Auch Dalma hat die Augen abgewandt.
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