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Mitternachtsspitzen

Berlinale 95: Hongkong, Achternbusch, Ophuls und die amerikanische Ostküste. Eröffnungsfilm ist „Das Versprechen“  ■ Von Mariam Niroumand

So wie Steven Spielberg sein Domizil in New York aufschlägt (und mit ihm etliche Hollywood-Moguln) wendet sich auch die diesjährige Berlinale in allen ihren Sparten der Ostküste und ihrer Indie-Szene zu. Völlig zu recht besteht Moritz de Hadeln darauf, sich aus seiner Westbindung nicht herauseisen zu lassen, und hat Abel Ferrara mit seinem letzten Film „The Addiction“ in den Wettbewerb eingeladen, ebenso wie zwei Filme von Wayne Wang (einen mit dem Schriftsteller Paul Auster gedrehten), „Smoke“, „Blue in the Face“, und eine Produktion aus Robert Redfords Sundance Institute, „Quiz Show“, eine weitere Abrechnung des Kinos mit dem Fernsehen, oder Bruce Beresfords „Silent Fall“, ein Film über Autismus. Man hat das angenehme Gefühl von Unwägbarkeit; die Sache kann sich in alle Richtungen entwickeln.

Dann sind da in diesem Jahr ganze vier Filme von deutschen Regisseuren in den Wettbewerb geraten, darunter 1 (in Worten ein) Achternbusch! Dieser Film, „Hades“, ist eine extreme Gratwanderung, ein Zentimeter daneben und er wäre in das Oneinograusoschreck abgesackt, aber so ist er so ziemlich das Beste, was Achternbusch jemals gemacht hat – aber das ist my meinung. Detlef Kuhlbrodt hat seinen Achternbusch in München getroffen, Anfang nächster Woche lesen Sie, was zwischen den beiden geschah.

Den Wettbewerb eröffnet mutigerweise Margarethe von Trottas „Das Versprechen“, eine Liebesgeschichte, die so lang dauerte wie die Mauer stand. Das Gespräch mit Peter Schneider, dem Koautor des Drehbuchs, und der Regisseurin können Berliner heute, Nicht- Berliner morgen in der taz lesen. Edgar Reitz hat eine Art „Night of the Living Dead“ zum 100. Geburtstag des Kinos gedreht, die computergenerierte Bewegung deutscher Regisseure aller Gewichts-und Altersklassen, produziert mit dem British Film Institute. Auch Agnès Varda beschäftigt sich mit den hundert Jahren in „Hundert und eine Nacht“ mit Michel Piccoli und allem, was man sonst so braucht.

Good old Europa im klassischen Sinn ist vertreten durch einen Film von Alain Robbe-Grillet, der passenderweise auch gleich „Un bruit qui rend fou“ heißt, was aber mit „Die blaue Villa“ übersetzt wurde. Dann ist da noch Bertrand Tavernier mit „Der Lockvogel“ und Manuel Gutiérrez Aragon mit „Der König des Flusses“.

De Hadeln und seine Jury (Mitglieder sind unter anderen Christiane Hörbiger und Lia van Leer, die Leiterin des Festivals in Jerusalem, die charmanterweise aus Anlaß des 50. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz eingeladen wurde) haben sich ziemlich gut auf den speziellen Geschmack des Berliner Mitternachtspublikums eingeswingt: Hongkong is here to stay, Ann Hui, Produzentin und Regisseurin, stellt „Sommerschnee“ vor, Li Shaohong hat seinen Film in Konkurrenz zu Kieslowski „Rouge“ genannt, „Rote Rose weiße Rose“ und „Rückkehr“ sind zum Teil unter den neuen, schwierigeren Bedingungen in Koproduktion mit China oder Taiwan entstanden.

Was sollen wir lange drumherum reden: wer in diesem Jahr das Forums-Programm ungenutzt vorüberziehen läßt, hat die entscheidende Karawane verpaßt. Nicht genug damit, daß der neue Marcel Ophuls, „Viellées d'armes“, das mit Abstand intelligenteste und witzigste Puzzle, das ich je über Kriegsberichterstattung gesehen habe, jawohl, dort im wahrsten Sinne des Wortes auf seinen Counterpart Claude Lanzmann und dessen Film „Tsahal“, ein Porträt der israelischen Armee, trifft („aufeinandertreffen“ eben auch insofern, als sie zwei komplett unterschiedliche Arten der Selbstpräsentation von Dokfilmern offenbaren). Birgit Hein hat einen phantastischen Reisefilm gemacht, dessen Off- Text alles sagt, was Sie noch nie über sich selbst hören wollten und doch immer schon wußten (wenn Sie Frau sind oder es werden wollen), und mit dessen Bildern etwas vorgeht, was man unter Alchemie, Befreiungschemie verbuchen muß. Hoffentlich kommt sie zu Interviews. Ach! Dann ist da Louis Malles „Vanya on 42nd Street“, die Xste, aber schönste „Onkel Wanja“-Verfilmung, die zur Zeit in Umlauf ist, mit Wallace Shawn und der Atmosphäre von „Mein Essen mit André“, für Leute, die sich vorstellen können, die Verzweiflung, die einen beim Spaziergang auf der 42nd Street anfällt, mit dem kurzzuschließen, was Tschechows Protagonisten umtreibt. Da wäre noch verschiedenes anzuführen, ein chinesisches Polizistenporträt von 1950 zum Beispiel, oder „The Eagle-Shooting- Hero“, ein Hongkong-Märchen mit silbernen Killerschuhen und Unsinn schwatzenden Prinzessinnen, die computeranimiert in Liebesdingen durch die Lüfte sirren, hast du nicht gesehen, sssssss-t.

Das „Panorama“, das lange mit dem Tod von Manfred Salzgeber gekämpft hat (für den es übrigens am 16.2. eine Vorführung von „Monsieur Verdoux“ gibt), beschäftigt sich, unter der liebevollen Leitung von Wieland Speck, weiterhin mit Manfreds Themen, dem expliziten Minderheitenkino: „Bar Girls“ soll für ein lesbisches Kino fortsetzen, was „Go Fish“ im letzten Jahr anfing, einen Filmbericht von der tuntigsten Angelegenheit der Welt, dem „Wigstock Festival“, wie es jährlich auf dem Union Square in New York stattfindet; mehrere Filme gibt es, unter anderem aus Afrika, zum Thema Aids. Eine ganze Reihe zeigt neue Spielfilme aus Israel, darunter den Nachfolger von „Life according to Agfa“ (im Forum: „Don't touch my Holocaust“).

Geehrt werden in diesem Jahr das Kino selbst, Buster Keaton und ein Mann, dessen Name hier nicht genannt werden kann.

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