: Absurde „Schweißnaht- Diskussion“
■ betr.: „Mit Atomkraft läuft es nicht“, taz vom 18. 1. 95
Jürgen Voges berichtet in dem Artikel, der BUND-Geschäftsführer Onno Popinga habe gesagt, „erst wenn die energiepolitischen Grundlinien gemeinsam definiert seien, könne man auch Restlaufzeiten für die AKWs festlegen“. Das klingt so, als ob Einigkeit darüber bestünde, daß Restlaufzeiten für Atomkraftwerke verhandelbar seien. Dazu steht in völligem Widerspruch die immer wieder zu hörende Behauptung, die Atomkraftwerkebetreiber besäßen einen Rechtsanspruch auf den Betrieb ihrer Atomkraftwerke.
Erst im Frühsommer 1994 hat es eine Atomgesetzänderung gegeben, mit der die Politiker in Bonn versucht haben, dieser Behauptung durch Gesetzesänderung die rechtliche Absicherung zu verschaffen und die Restlaufzeit der Atomkraftwerke in das Belieben der Atomfirmen zu stellen. Und entsprechend hat der für das Atomkraftwerk Würgassen zuständige Beamte im Düsseldorfer Wirtschaftsministerium, Ministerialrat Siebel, auf einer Sondersitzung des Kreistages Höxter seine Rechtsauffassung dargelegt. Danach hat die PreussenElektra aus dem Grundrecht auf Eigentum angeblich einen Anspruch darauf, das AKW Würgassen so lange betreiben zu dürfen, als nicht mit dem Eintritt der Atomkatastrophe fest zu rechnen sei.
Doch der Anspruch der Bevölkerung aus dem Grundgesetz auf Leben und Gesundheit rangiert weit vor dem Recht der Atomfirmen auf Eigentum. Das heißt, die Bevölkerung müßte erst eindeutig auf ihren Grundrechtsanspruch verzichtet haben, ehe die PreussenElektra ihren Anspruch aus Eigentum auf Betrieb des AKWs durchsetzen kann – ehe die beschlossene Atomgesetzänderung angewandt werden kann.
Der BUND-Bundesgeschäftsführer müßte sich die Frage stellen, ob seine Äußerung nicht von interessierter Seite als indirekter Verzicht auf den Grundrechtsanspruch auf Leben und körperliche Unversehrtheit gedeutet werden könnte. Im übrigen hat die Bundesdelegiertenversammlung des BUND 1993 den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie gefordert und sich dabei auch auf den Grundrechtsanspruch der Bevölkerung auf Leben und körperliche Unversehrtheit berufen.
Der Landesverband Nordrhein- Westfalen nutzt derzeit die Diskussion um die Rißschäden in Einbauteilen im Reaktordruckbehälter des Atomkraftwerkes Würgassen, um unter Berufung auf die Unbeherrschbarkeit des AKW-Betriebes und das Grundrecht der Bevölkerung auf Leben und körperliche Unversehrtheit von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen die Entziehung der Betriebsgenehmigung zu fordern. Von der Bevölkerung, die allmählich die Absurdität der „Schweißnahtdiskussion“ begreift, erhalten wir dabei viel Zuspruch. Traute Kirsch, Landesvorstand
BUND, Beverungen
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