: Fünfzig Jahre Dresden
■ In der Nacht des 13. Februar 1945 schmolz in Dresden der Sandstein. In den Tagen danach verbreitete sich der Geruch von Auschwitz über der Stadt. Ein paar Ergänzungen zu unvollständigen Geschichtsbildern
Fünfzig Jahre Dresden
Am Morgen des 13. Februar 1945 erhielten die letzten Juden Dresdens den Deportationsbefehl. Am Abend brach das Verhängnis herein.
„Die Bomben fielen, die Häuser stürzten, der Phosphor strömte“, berichtet Victor Klemperer, „und derselbe Feuersturm riß Jud und Christ in den Tod; wen aber von den etwa 70 Sternträgern diese Nacht verschonte, dem bedeutete sie Errettung, denn im allgemeinen Chaos konnt er der Gestapo entkommen.“ In ihrer aktuellen Ausstellung „Lebenszeichen – Dresden im Luftkrieg 1944/45“ hantiert die „Interessengemeinschaft ,13. Februar 1945‘ e.V.“ mit derselben Geschichte anders: „Das unvorstellbare Grauen der Bombenangriffe“, heißt es im Schlußabsatz des Kataloges, „betraf unterschiedslos die Dresdner Einwohner, die Flüchtlingsfamilien, die Kriegsgefangenen, die Zwangsarbeiter, die wenigen verbliebenen Dresdner Juden ...“ Ein flüchtiger, impliziter Hinweis auf die schon Ermordeten, kein Wort vom Deportationsbefehl für die Letzten, all das angereichert mit der vorsätzlichen Verwischung jeder Differenz – so sind sie, die subtil verfälschenden Sprechblasen der neueren „Erinnerungskultur“.
Klemperer brauchte sich um die Unterscheidungen, die ihm die Rassennation aufgezwungen hatte, nicht zu scheren. Er notierte beides: Das „Hochgefühl der märchenhaften Errettung“, sein Hoffen auf das schnelle Ende des Krieges, das ihn unter dem „Eindruck dieser Vernichtung“ beflügelte, und er sprach von „unserem dies ater“ – unserem Unglückstag.
Ganz anders Ralph Giordano: Wer heute an den Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Zerstörung Dresdens teilnimmt und dort gar redet, der stellt sich an die Seite „professioneller Aufrechner“, so mahnte der Publizist neulich an dieser Stelle. Mehr noch: der begibt sich – absichtsvoll, bestenfalls naiv – mitten in jenes „verlogene Koordinatensystem“, in dem „die schreckliche Nacht von Dresden seit jeher zur Entsorgung der deutschen Verbrechen“ mißbraucht wird.
Am 6. Januar sekundierte Gunter Hofmann („Giordano hat Recht“) per Leitartikel in der Zeit: Hinter der früh geäußerten Absicht des Bundespräsidenten, in Dresden zu sprechen, zeigten sich „die Konturen einer anderen Republik“. „Schluß auch“, fragte sich Hofmann, „mit dem konsensstiftenden Tabu ,Auschwitz‘?“ und fuhr fort: „Vor 50 Jahren, am 27. Februar (!) 1945, sind die Überlebenden dieses Konzentrationslagers befreit worden. 50 Jahre danach liegen viele Revisionsabsichten in der Luft.“
Abgesehen davon, daß der Zeit- Autor statt zu eifern erst einmal die Daten repetieren sollte, hat jede Generation das Recht, nach neuen Interpretationen des Vergangenen zu suchen. Im übrigen ist Geschichtsrevision nicht das Böse per se. Der Blick hinter liebgewonnene Legenden gehört zum Geschäft des Historikers.
Wenn Autoren wie Giordano oder Hofmann von Revisionismus sprechen, dann denken sie an Ernst Nolte. Es entgeht ihnen, daß in der DDR komplementär zur vielfach bemerkenswerten antifaschistischen eine postfaschistische Historiographie blühte, die sich locker am publizistischen Treiben westdeutscher Vertriebenenverbände messen läßt. Im Jahr 1965 beschrieb der langjährige, damals amtierende Bürgermeister Dresdens, Walter Weidauer, das Inferno. Das Buch erschien in neun Großauflagen. Noch in der Ausgabe von 1990, die nicht einfach nachgedruckt, sondern verändert wurde, heißt es: Im Februar 1945 sei „vom damaligen britischen Premierminister, dem Vertreter der reaktionärsten Kreise Englands, das Todesurteil“ über die Stadt unterschrieben worden. Als „Vorreiter der Imperialisten“ habe Churchill „mit dem furchtbaren Angriff auf Dresden, mit den ermordeten 35.000 Frauen, Kindern und Greisen“ versucht, Stalin „zu erschrecken“ und ihm „seine Forderungen für ein reaktionäres Nachkriegseuropa aufzwingen“ wollen. Im ostdeutschen Standardwerk zur „Geschichte des Luftkriegs“ – erschienen 1980, „Lektor: Egon Krenz“ – ist in bestem Goebbels-Deutsch vom „anglo-amerikanischen Terror“ die Rede. Der antidemokratische Affekt solcher Merksätze liegt auf der Hand.
Die Gründe für die britschen und amerikanischen Luftangriffe lassen sich differenziert beschreiben. Unter anderem wollten die Alliierten, die Gemeinschaft von Volk und Führer auf diese Weise zerbrechen. Daß sich solche Überlegungen als realitätsfern erwiesen, sagt mehr über die Deutschen, als über Briten, Amerikaner und Russen. Aber das eigene Leid – auch das selbstverschuldete – muß erzählt und betrauert werden. Geschieht das nicht, bleibt der geistige Boden hohl, auf dem all das, was die Deutschen als Aggressoren anderen zufügten, bedacht wird. Selbstverständlich kann, ja muß der Bundespräsident heute in Dresden sprechen – wie, das sollte man sich anhören. Schließlich gelang es ihm in Polen, in Israel und zuletzt in Auschwitz, einen gesellschaftlichen Konsens in Worte und in Schweigen zu fassen, der von Wolf Biermann bis Botho Strauss reicht, von Peter Gauweiler bis Gregor Gysi. In Dresden wird Roman Herzog heute – gemeinsam mit dem Bischof von Coventry – der Toten gedenken.
Im 18. Jahrhundert hatte Canaletto die Stadt – neben Venedig und Warschau – gemalt; Herder verehrte sie als „deutsches Florenz“. Noch um die Jahreswende 1944/45 herrschten dort, zwischen dem Blauen Wunder und der Hofkirche, die hergebrachte und die neue, schon zwölf Jahre währende Ordnung: Die Kolonnen der SA und SS, der HJ und des BDM zogen singend über die Carolabrücke und marschierten am Königsufer auf – „noch lebte“, so Klemperer, „die Legende vom Endsieg oder fügte sich doch alles dem Zwang, an sie zu glauben“.
Das Modell für den Angriff hatte die deutsche Lufwaffe 1940 im Bombenkrieg gegen England entwickelt und an der historischen Altstadt des mittelenglischen Coventry durchexerziert: erst Brandbomben, dann Sprengbomben, um die Wasserleitungen zu zerstören und den Rettungsmannschaften die Wege zu versperren. Die Technik des Feuersturms – das „Coventrieren“ – war erfunden. Britische Strategen studierten das Verfahren und entwickelten es weiter: 1943 verglühten Hamburg und Kassel – in Dresden schmolz 1945 selbst der Sandstein, was mindestens 1.000 Grad erfordert. Die meisten der etwa 35.000 Opfer verdörrten, starben an sogenannter Hyperthermie, oder erstickten im Kohlenmonoxyd der Schwelgase.
In den Tagen nach dem 13. Februar sammelten die Bergungstrupps 6.850 Leichen auf dem Altmarkt im Zentrum der Stadt. Aus Straßenbahnschienen wurden dort Roste gebaut, darunter Holz geschoben und darüber – so, daß hinreichender Durchzug gewährleistet blieb – die Leichen gestapelt. Sie wurden schichtweise mit Benzin getränkt und verbrannt.
In den Annalen der Stadt wird behauptet, es sei „unbekannt, wer diesen Gedanken zuerst aussprach“. Wie von selbst habe die Seuchengefahr zu der „Idee, die nur die Not gebären konnte“ geführt, die Leichen „durch ein Radikalmittel zu beseitigen“. Und dann: „Aber wo gibt es eine Parallele? Wo sah sich in den letzten Jahrhunderten ein Volk gezwungen, die unzähligen Opfer weniger Stunden verbrennen zu müssen, weil eine Bestattung einfach unmöglich war. Es gibt kein Beispiel.“
Wenn dem so wäre! In Dresden gingen Fachleute ans Werk. Und obwohl die Wahrheit gut dokumentiert ist, bleibt sie in jeder einschlägigen, selbst in der soliden Darstellung von Götz Bergander tabu. Die Scheiterhaufen wurden nicht aus der Not errichtet, sondern, wie Wolfgang Scheffler in ganz anderem Zusammenhang belegte, unter der höchst sachkundigen Leitung von Angehörigen des SS-Bataillons Streibel. Die Männer dieser Einheit hatten in den Jahren zuvor an der Vernichtung der europäischen Juden im Distrikt Lublin mitgewirkt und immer dann Leichen unter freiem Himmel verbrannt, wenn die Krematorien nicht ausreichten, durchbrannten oder die Kokslieferungen stockten. Auch hatten einige derjenigen, die nun in Dresden ihre längst erprobten „Radikalmittel“ anwandten, seit dem Sommer 1943 Hunderttausende von Leichen aus frischen Massengräbern im deutsch besetzten Osteuropa exhumieren und verbrennen lassen. Die Häftlinge, die sie zu dieser Arbeit zwangen, wurden erschossen; nur wenige konnten fliehen. Zweck dieser „geheimen Reichssache“ unter dem Kodewort „Aktion 1005“ war es, die Blutspur der Deutschen in Kiew und Riga, in Dnjepropetrowsk und Birkenau zu tilgen, in Chelmno ebenso wie an mehreren Dutzend anderen Orten.
Mit dem Vorrücken der Roten Armee waren die Vernichtungskommandos nach Deutschland zurückgetrieben worden. In den Trümmern Dresdens entfachten sie den Geruch von Auschwitz. Götz Aly
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