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Vom Fahrrad aufs Moped umsteigen

Vietnam, Land im wirtschaftlichen Umbruch: Seit Beginn der Reformen hat sich der Lebensstandard vieler Menschen deutlich verbessert / Zweit- und Nebenjobs, um über die Runden zu kommen  ■ Von Hermann G. Abmayr

Ho-Chi-Minh-Stadt, kurz vor 22 Uhr: Die wenigen Straßenlampen gehen wieder an. In den Häusern ertönen die Fernsehgeräte. Der Stromausfall ist vorüber. Fußgänger, Radfahrer ohne Licht und einige Mopeds kommen mir entgegen. Vor einem heruntergekommenen Haus aus der französischen Kolonialzeit kocht eine Frau Nudelsuppe. Eine andere bietet vorgeschälte Pampelmusen feil. In einer abgelegenen, kaum beleuchteten Gasse spricht mich ein junger Mann an – auf englisch. Ob ich etwas suche, fragt er.

Van Thin, so heißt der 25jährige, zeigt mir die kleine Pagode des Stadtteils. Sie ist verschlossen. Die kleine katholische Kirche des Viertels – der Priester sei Franzose – will ich nicht sehen. Der Weg durch eine finstere Gasse ist mir zu unheimlich. Wir verabreden uns für den nächsten Tag im kürzlich eröffneten Restaurant Annam in der Innenstadt. Van Thin arbeitet dort als Kellner.

Eigentlich wollte Van Thin nach dem Abitur Literatur studieren. Doch seine Noten waren nicht gut genug. Jetzt verdient er 80.000 Dong im Monat, rund 80 Dollar. Das ist ein Drittel mehr als das Gehalt eines Oberschullehrers. Van Thin hat Glück. Die Restaurantbesitzerin hatte ihn und seine Kollegen unter 130 Bewerbern ausgesucht. Das Annam ist ihr zweites Restaurant. „Auch das ist ein Ergebnis von Doi Moi“, sagt ihr Kellner. Mit Doi Moi meinen die Vietnamesen die Erneuerung, vor allem die Erneuerung der Wirtschaft.

Van Thin, der ohne Eltern aufgewachsen ist, will Fremdenführer werden, was derzeit neben Englischlehrer einer der Traumjobs in Vietnam ist. Sein bester Freund Vinh Dau will Karriere in einer Bank machen. Auch er hatte keinen Studienplatz. Doch inzwischen kann jeder die Universität besuchen, der dafür bezahlt. Vinh Dau finanziert sein Wirtschaftsstudium als Kellner im Annam.

Die beiden Freunde gehören bereits zu den Privilegierten. Davon kann die 25jährige Nguyen Thi Quy aus Hue nur träumen. Auch sie kommt aus bescheidenen Verhältnissen. Auch sie hat Abitur. Seit zwei Jahren lernt sie in Privatkursen Englisch – für zwei Dollar im Monat.

In den vietnamesischen Städten ist das Englisch-Fieber ausgebrochen. Und dies nicht erst seit der Aufhebung des US-Embargos im vergangenen Jahr. Allein in Hue nehmen rund 5.000 Erwachsene abends Englischunterricht. Die Lehrer, die auf eigene Rechnung unterrichten, stehen sich jetzt nicht schlecht.

Thi Quy verdient sich ihre Dongs mühsam auf der Hai-Le- Loi, einer Straße, die zum Bahnhof führt. Täglich verkauft sie dort Zigaretten, meist stückweise, denn für eine ganze Schachtel fehlt vielen Vietnamesen das Geld. Für Mofa- und Motorradfahrer hält die junge Frau Benzin bereit, abgefüllt in Plastikflaschen. Ihren Verkaufsplatz hat sie gut ausgesucht. Auf der anderen Straßenseite steht das Hotel Le Loi, früher Gästehaus der Universität. So hat Thi Quy immer wieder die Möglichkeit, mit Fremden ins Gespräch zu kommen und ihr Englisch zu verbessern.

Ihre neueste Geschäftsidee: Sie vermietet Touristen, die die Kaisergräber am Parfümfluß besichtigen wollen, ihr neues Fahrrad, made in China. Die vietnamesischen Fahrräder, sagt sie, sind schlecht. Und tatsächlich kämpfen die Hersteller ums Überleben. Ihre jahrzehntelange Monopolstellung hat sie träge gemacht. Die Zulassung ausländischer Konkurrenz soll dies ändern.

Das Fahrrad ist in Vietnam immer noch das wichtigste Massenfortbewegungsmittel. Doch in den Städten erobern bereits motorisierte Zweiräder, Marke Honda, die Straßen. Von diesem Boom leben die vielen Benzinverkäufer an den Straßenrändern, aber auch kleine Werkstätten, die auch uralte Simsons aus der DDR wieder in Schwung bringen. Die kleinste Werkstatt besteht aus einer Luftpumpe und einem einfachen Vulkanisierapparat. Die Männer sitzen an Kreuzungen oder Straßenecken und warten auf Kundschaft. Auch damit läßt sich Geld verdienen. Duc Thin beispielsweise hält sich so über Wasser. Er hat in einer Maschinenfabrik in Hanoi gearbeitet. Das marode Staatsunternehmen hatte ihn entlassen – ein weiteres Ergebnis von Doi Moi. Etwa die Hälfte der Betriebe mußten geschlossen werden. Sie hatten tiefrote Zahlen geschrieben.

Trotzdem sehen wir in Vietnam keine Slums, und die nach Schätzungen westlicher Beobachter etwa 30 Prozent Arbeitslosen finden offenkundig immer irgendeine Beschäftigung, selbst wenn sie damit nur ein paar Dong verdienen. Aus jeder Behausung läßt sich schließlich ein kleiner Laden machen, und wer abseits wohnt, treibt Kleinhandel auf der Straße. Zehntausende Obstverkäuferinnen verdienen sich so ihren spärlichen Lebensunterhalt.

Das Land ist im Umbruch, und die Leute machen mit. „In der Partei hatte man vor einigen Jahren mit Problemen bei der Umstellung gerechnet“, berichtet Le Thieu. Aber der 65jährige Schriftsteller aus Hanoi war sich schon damals sicher, „daß die Menschen unseren Weg verstehen werden“. Thieu sollte recht behalten.

Auch verdiente Parteikader mußten daran glauben. Die staatlichen Betriebe haben einen Großteil des Managements ausgewechselt. Nicht mehr der Parteisekretär spiele in den betriebswirtschaftlich geführten Unternehmen die Hauptrolle, sondern der Generaldirektor, berichtet Ninh Thi Ty von der Textilfabrik Thaloga. Die einstige Textilarbeiterin ist heute Exportleiterin. Die alten, meist unfähigen Direktoren wurden in den Vorruhestand geschickt.

An der Wahl des neuen Generaldirektors der 2.300 Beschäftigten war sie beteiligt. Vom Gruppenleiter bis zum Direktor habe man in einem speziellen Wahlverfahren drei Kandidaten ausgesucht, um sie dem Ministerium für Leichtindustrie vorzuschlagen. Akkordarbeiter könnten es in diesem Betrieb auf 45 Dollar bringen. Da fast alle Nebenjobs haben, reicht das meist für ein Moped. Sicherlich eine Ausnahme, denn der Betrieb, der unter anderem Quelle, Kaufhof, C & A und den Otto-Versand beliefert hat, macht Gewinn.

Vietnam gehörte in den achtziger Jahren noch zu den ärmsten Ländern der Welt. Immerhin 70 Prozent der 65 Millionen VietnamesInnen ernährten sich noch von der Landwirtschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Stadtflucht kannte man bis zu den achtziger Jahren wegen rigider Zuzugsbeschränkungen nicht. Doch seit Doi Moi strömen immer mehr Menschen nach Saigon und Hanoi.

Die Entwicklung auf dem dichtbesiedelten Land kann kaum mithalten. Gerade dort ist die Geburtenrate extrem hoch. Im Schnitt liegt sie in ganz Vietnam bei 2,5 Prozent – jedes Jahr kommen zwei Millionen Kinder auf die Welt. Doch solange nur Staatsbedienstete eine Rente bekommen und die Alten auf dem Land von ihren Kindern leben, werden die Appelle der Familienplaner nicht fruchten. Trotzdem hat Vietnam in der Landwirtschaft enorme Erfolge vorzuweisen. Noch bis Ende der achtziger Jahre mußte Reis importiert werden. Die Menschen kämpften in einigen Gebieten immer wieder gegen Hunger und Unterernährung. Seit der Privatisierung der Landwirtschaft und des Handels Ende der achtziger Jahre ist das Land der drittgrößte Reisexporteur der Welt. Und dies obwohl es kaum Maschinen gibt, die Bewässerung vorindustriell ist und Lagerhaltung sowie Transport immer noch sehr rückständig sind. Überall im Land lassen die Bauern den Reis auf Straßen trocknen. Gelegentlich läßt man ihn von vorbeifahrenden Autos dreschen.

Die Exportfolge in der Landwirtschaft, die Ölvorkommen vor den Küsten und die politische und soziale Stabilität machen Vietnam inzwischen zu einem kreditwürdigen Land. Der Lebensstandard ist seit 1988 trotz des Zusammenbruchs des Ostblock-Wirtschaftsbündnisses RGW gestiegen. Auch das Wendejahr 1990 haben die Vietnamesen relativ gut überstanden. Trotz US-Embargos und trotz diverser Handelsbeschränkungen in Europa oder Japan konnte man vergleichsweise schnell in den kapitalistischen Märkten Fuß fassen.

Die rigiden Importbestimmungen der EU konnten jedenfalls nicht verhindern, daß mehr vietnamesische Textilprodukte in der BRD verkauft werden, als erlaubt ist. Auch wenn es offiziell nicht zugegeben wird, haben die Exporteure dabei oft mit viel List und Tücke gearbeitet. Statt die Ware direkt zu verkaufen, benutzt man Briefkastenfirmen und Zwischenhändler in Hongkong, Taiwan oder anderswo. Dennoch wünschen sich die Exporteure eine Lockerung. Warum, so fragen sie, kann Vietnam heute nur einen Bruchteil der Menge, die vor der Wende über Ostberlin verkauft wurde, ins vereinte Deutschland liefern?

Weltbank und IWF beurteilen die Entwicklungsaussichten Vietnams trotz aller Beschränkungen und Schwierigkeiten so positiv, daß sie bereits von einem künftigen „Schwellenland“ sprechen. In zehn Jahren könnte das Land so weit sein wie heute Thailand. Solchen Optimismus teilen auch viele Vietnamesen. Kritischen Beobachtern von krisengeschüttelten Industriestaaten erscheint dies naiv. Aber die Erfahrungen der Vietnamesen haben gezeigt, daß sich die Lebensverhältnisse seit Doi Moi ständig verbessern. Warum also soll ein so unbekanntes Wesen wie der kapitalistische Weltmarkt diese Entwicklung aufhalten können?

Kaum vorsichtiger beurteilt die Exportchefin der Textilfabrik Taloga die Chancen ihres Landes. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Landsleute kennt sie Europa: Sie hatte Anfang der siebziger Jahre in Chemnitz studiert, hat nach der Wende in Düsseldorf einen Managementkurs absolviert und ist immer wieder auf Geschäftsreise in Europa. „Wenn die Leute in Vietnam fleißig sind“, hofft sie, „daß unser Lebensstandard in zweihundert Jahren so gut sein wird wie der in Deutschland“.

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