: Zwang zur Modernisierung
■ Herbert Mai als neuer ÖTV-Vorsitzender gewählt
Berlin (taz) – Wie Bürokratie und große Organisationen funktionieren, damit dürfte er sich auskennen. Vor allem dieses Wissen wird der gelernte Verwaltungsfachmann Herbert Mai künftig brauchen. Gestern wurde der 47jährige hessische ÖTV-Bezirkschef mit 668 von 894 Delegiertenstimmen zum neuen ÖTV-Bundesvorsitzenden gewählt. Extra zur Wahl des neuen ÖTV-Chefs war ein außerordentlicher Gewerkschaftstag in Hannover einberufen worden. Wie üblich auf Wahlgewerkschaftstagen gab es keine Gegenkandidaten.
Seit November hatte Mai auf einer Ochsentour durch 16 ÖTV-Bezirke in West- und Ostdeutschland um das Wohlwollen der Mitglieder geworben. Der Nachfolger von Monika Wulf-Mathies gilt in der Gewerkschaft als Modernisierer. Mai hat erst kürzlich eine erstmalige Vereinbarung mit dem hessischen Innenministerium getroffen. Das Ziel: eine enge Kooperation zwischen ÖTV und Arbeitgebern bei der Verwaltungsreform in Hessen. Schon als hessischer Bezirkschef hatte Mai sich für individuelle Arbeitszeitregelungen stark gemacht und sich auch offen für Teilprivatisierungen gezeigt.
Sein persönlicher Spielraum in der Gewerkschaftspolitik wird mit der Wahl zum Bundesvorsitzenden allerdings wohl eher ab- als zunehmen. Denn schon der programmatische Gewerkschaftstag in Bremen im vergangenen Jahr ließ erkennen, daß auch der künftige ÖTV-Vorsitzende eine schwierige Gratwanderung machen muß. Da ist zum einen die Mitgliederforderung nach „klassischer Tarifpolitik“, dem „kräftigen Schluck aus der Lohnpulle“ (O-Ton Wolfgang Warburg, ÖTV-Interimsvorsitzender). Zum andern aber sieht sich Mai auch den Zwängen zur Modernisierung ausgesetzt – will die ÖTV nicht den Anschluß verlieren, muß sie beim Thema Reform des öffentlichen Dienstes mehr Flexibilität beweisen.
Der eher schmächtig und verhalten wirkende Mai gilt vielen Gewerkschaftern als nicht offensiv genug. Genügend „Stallgeruch“ aber hat er. Seit 31 Jahren ist Mai Mitglied der ÖTV, 1982 wurde er ÖTV-Bezirkschef in Hessen. Eine schwierige Hürde muß er gleich zu Beginn seiner Amtszeit nehmen. Ende März beginnen die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. Barbara Dribbusch
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