: Die Unschuld schaut aus alten Augen
■ Invasion der Engel: „Golos Travy“ von Natalja Motuzko (Panorama)
Das war doch mal ein dramatischer Effekt! Vor Filmbeginn ließ die ukrainische Regisseurin Natalja Motuzko ihre Hauptdarstellerin aus kräftiger Brust und in ukrainischer Tracht eine ukrainische Volksweise anstimmen — Alle Mann aufwachen!
Klug so, denn „Golos Travy“ ist starker Tobak. Der erste ukrainische Film erscheint als eine einzige Allegorie, über die Maßen weihevoll im Ton, bis über den Rand philosophisch und symbolgeladen. Ein metaphysischer Diskursfilm, und um Lichtjahre von jenem direkten Zugriff auf die Wirklichkeit entfernt, wie man ihn vom Perestroika-Kino à la „Kleine Vera“ kennt. Motuzko hat augenscheinlich eher bei Tarkowski, Jarman und Beckett gelernt.
Der Plot, falls davon überhaupt die Rede sein kann: Ein fiktiver Ort, irgendwo zwischen Märchenwald und ländlichem Idyll; mit kleinen Engelsflügelchen verzierte Waldschrats tollen umher und sinnieren. Die Prämisse: „Wir existieren“. Eine Alte, weise Frau (in der englischen Untertitelung „Sorceress“) rekrutiert eine junge, schöne als Zauberlehrling und führt ihre Auszubildende in die Riten einer „Tschernaja Nauka“ ein (in jene schwarze Wissenschaft“, die in der Untertitelung leider zur „Hexerei“ verkommt). Und sie vermittelt der Jungen mit der Seherinnengabe auch die philosophischen Zweifel: Ist Gott der Teufel, der zu einem spricht? Was ist gut, was böse („evil“)? Darf man denen, die ihr Unglück noch nicht kennen, wider Willen zur Bewußtheit verhelfen?
Die Zauberin fällt in ein großes Lamento über das kontra-mephistophelische Prinzip ein: Das Gute kann und wird das Böse nach sich ziehen. Die Sache ist klar. Das Wachsen der Jungen bedeutet den Tod der Alten. Gegenwart und Zukunft trinken die Vergangenheit aus.
Motuzko hat mit Anspielungen nun nicht gerade gespart, um diese Thesen nach Erzählungen von Jewgenij Schewtschuk bildlich umzusetzen. Man muß sich schon halbwegs in der slawischen Märchenwelt, christlichen Ikonographie, vorchristlichen Mythenwelt sowie im surrealen Tafelwerk auskennen, um überhaupt folgen zu können. Da fischen die Zauberinnen Sterne aus genau jenem Märchwaldbrunnen, in den — so verlangt es die Überlieferung — die Alte die Junge stößt. Allenthalben Lebenslicht, Erweckung, Feuer, Nebel, reine Natur, fruchtbarkeitskündende Eier, als Musik pseudo-orthodoxe Chöre, Invasion der Licht- und Todesengel und dann noch die Stimme des Herrn: „Gestehe, und du bist erlöst!“ Kelche werden geleert und Füße gewaschen. Auf ihrem Weg begegnen die beiden Frauen den Toten; die sterbende geht in eine andere Welt ein, in der sie weiterleben wird.
Priesterinnenhaft, permanent erhaben und in der Farbsymbolik ebenso streng wie in den übrigen Kontrapunkten, muß „Die Stimme des Grases“ zwangsläufig überfordern. Die Symbiose von weißer Reinheit und schwarzem Alter mündet darin, daß die Unschuld am Ende alte Augen hat und wie ein greises Mütterchen, gestützt auf einen Stock, über eine fast verlassene Erde schreitet. Zuviel Wissen tötet.
„Golos Travy“ ist seinen bildlichen und gedanklichen Ebenen nach wie eine „Matrjoschka“- Puppe, bei der man nie zum letzten, kleinsten Püppchen gelangt, weil immer und immer wieder eines drin steckt. Anke Westphal
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