: Provinz pur, Geschichte satt
Ein Streifzug auf der „Silberstraße“ von Nord- nach Südspanien durch verlassene Landstriche, Ritterstädte und die Heimat der Conquistadores ■ Von Edith Kresta
Ritterherrlichkeit, Donquichotterie, Semana Santa, Conquista und Reconquista, Stiere, Flamenco, Sonne, verschandelte Küsten – so einige Klischees zu Spanien. Um dem dahintersteckenden Mythos, geschweige der spanischen Realität auf die Spur zu kommen, war das „Auslaufmodell Torremolinos“ ohnehin nie sonderlich geeignet. Dazu muß man sich schon tiefer ins Land hineinwagen. Warum nicht auf die Ruta de la Plata?
Das jungtouristische Pflänzchen Ruta de la Plata (Silberstraße) führt auf der N 630 von Gijon im Norden nach Sevilla im Süden. Eine Reise durch vier gänzlich unterschiedliche spanische Länder – Asturien, Kastilien-León, Extremadura, Andalusien. Und eine Reise durch spanische Geschichte. Der einstige Verlauf der römischen Straße „Via 24“ war richtungweisend für die 800 Kilometer lange Nationalstraße N630. Auf diese römische Handelsstraße bezieht sich der Name „Ruta de la Plata. Ohnehin sind solche touristischen Highlights nicht unbedingt historisch korrekt. Erfindungsreiche Marketingspezialisten haben sie aus Bruchstücken zusammengepuzzelt. Nach dem Marketingerfolg des Jakobswegs setzt das spanische Tourismusministerium 1994 auf die Ruta de la Plata um den Inlandstourismus zu fördern.
Im asturischen Gijon, dem nördlichen Ausgangspunkt der Route, scheint die vielbesungene spanische Sonne nicht allzuoft. Dafür macht der ewige Nieselregen die bergige Landschaft üppig grün. Verschlafene Meeresbuchten, Berge zum Wandern – und dies alles in einer Kombination aus Voralpenidyll und Ruhrpott. Kühe auf der Weide wechseln sich mit abgehalfterten Industrieanlagen und rauchenden Schornsteinen ab. Wegen des Niedergangs der Schwerindustrie wünscht man sich auch hier mehr Touristen. Doch diese Gegend ist kein Eldorado des klassischen Spanienurlaubers – ewig Sonne, Sand und Meer. Hier sind andere Höhepunkte angesagt.
Zum Beipiel historische, zum Beispiel Ritterherrlichkeit. Die im 8. Jahrhundert von Asturien ausgehende Reconquista, die Vertreibung der Mauren, erreichte schnell León. Im 12. Jahrhundert vereinte sich das Königreich León mit Kastilien. Es wurde zum Machtzentrum des mittelalterlichen Spanien. Eine karge Landschaft, besonders im Kontrast mit den grünen Hügeln Asturiens. „Die Nacktheit ist das letzte, was man zu genießen lernt. Manchem ist ein grünes Hügelchen voll zierlicher Obstbäume lieber als die ungeheure Masse der gewaltigen, felsigen Erdgiganten“, schreibt der spanische Philosph Unamuno über die kastilische Hochebene. Ihm jedenfalls verschaffte die Ödnis „einen tieferen und stärkeren ästhetischen Eindruck“, für andere bleibt das Ödland gewöhnungsbedürftig.
Jedenfalls kommt hier die riesige Silhouette des schwarzen Osborne-Stiers mitten in der Landschaft besonders gut zur Geltung. Er steht für Spanien. Der Stier der Straße sollte jüngst einem Gesetz weichen. Zum Glück haben sich die Spanier dann doch zu ihm und ihrer Tradition bekannt: Trotz des Verbots der von der Straße aus sichtbaren Plakatwerbung auf freiem Feld darf der schwarze Stier einsam in der Landschaft stehen bleiben. Er wurde kurzerhand als „kulturelles Wahrzeichen Spaniens“ unter Denkmalschutz gestellt.
Zum Beispiel Don Quichotte: Er reiste durch die karge Mancha Wertvorstellungen und Illusionen nach, die nichts mit der Realität zu tun hatten. Er könnte auch hier in der etwas weiter westlichen kastilischen Ebene unter einer Windmühle sitzen. Don Quichotte ist die umherirrende Karikatur der Wertbegriffe aus Ritterbüchern, die Karikatur des Hidalgo, des spanischen Kleinadligen. Was sich an ritterlichem Dünkel zur Zeit der Reconquista, der Vertreibung der Mauren aus Spanien aufbaute, wird in der Figur des Don Quichotte von Cervantes parodiert.
Immerhin drei Jahrhunderte beherrschten die Kastilier die spanische Gesellschaft. Burgen, Klöster, Kathedralen sind Ausdruck der aufstrebenden Ritterherrlichkeit des elften und zwölften Jahrhunderts. Das verwandtschaftliche Machtgefüge von Rittern, König und Priestern war ideologisch im Christum legitimiert. Kunst war Kirchenkunst. Die gibt es auf der Ruta de la Plata reichlich zu bewundern. Die Kathedrale in León beispielsweise ist Gotik pur. Sie wurde im dreizehnten Jahrhundert erbaut, als Sinnbild von Macht und Größe der Christenwelt, die längst in Konkurrenz mit dem wesentlich weiter entwickelten maurischen Süden stand. Mittelalterliche Glasfenster lassen viel Licht in die Kathedrale, was dem Bauwerk die erdrückende Mächtigkeit nimmt.
Im Kloster San Marco in León fanden und finden die Pilger nach Santiago de Campostela Unterschlupf. Ein junger Deutscher mit dem Pilgerstab vor dem Computer der Rezeption, die Ritterrüstungen auf den Treppenabsätzen, die Betten mit Baldachin in den Zimmern, das alte Mobiliar, die dunklen Porträts an den Wänden, die vielarmigen vergoldeten Kronleuchter – ein Stück Mittelalter hat sich in die Neuzeit hinübergerettet. Man würde sich kaum wundern, schritten die katholischen Könige, Isabel und Fernando, auf der riesigen Freitreppe zur Eingangshalle herab. 1514 stiftete König Fernando dem Kloster einen Neubau, dieser ist heute ein renommierter „Parador Nacional“, eine Qualitätsherberge. Die Paradores unter staatlicher Verwaltung sind zum großen Teil historische Denkmäler, durch den Hotelbetrieb lebendig gehaltene Museen mit bestem Standard. Es gibt sie in ganz Spanien.
Zum Beispiel Semana Santa: Ein Dorf, mit seinen grauen Mauern und den verlassenen Straßen nicht sonderlich einladend, ist die Bischofsstadt Zamora. Neben der wuchtigen Kathedrale aus dem elften Jahrhundert kann man hier im Karwochenmuseum ein Stück dunkles, mystisches Spanien kennenlernen. Das Museum wirkt wie eine Requisitenkammer zur Verfilmung der Inquisition. Dunkle Gewänder mit spitzen Kapuzen und Schleiern machten die Identität der Büßer im Prozessionszug vor Ostern unkenntlich. Geißelszenen an den Wänden, drastisch realistische Prozessionsgestelle mit den Kreuzwegstationen. Die Prozessionszüge vor Ostern zur Semana Santa mit ihren verhüllten Büßergestalten sind wie die Requisiten: furchterregend und ernst.
Zur Machtsicherung des christlichen Spanien gehörte nicht nur die Inquisition, sondern auch der Ausbau der Wissenschaften. In Salamanca steht die älteste Universität Spaniens aus dem 13. Jahrhundert. Hier wurde die spanische Elite gebildet. Salamanca war neben Oxford, Bologna und Paris das geistige Zentrum Europas. Noch immer ist Salamanca ein idyllisches, leicht verschlafenes Universitätsstädtchen. Die Elite, vor allem die technische, studiert heute in Madrid, Barcelona und Valladolid.
Zum Beispiel Reconquista: Erste Kork- und Steineichenwälder links und rechts der N630 charakterisieren die Extremadura. Die völlige Ödnis Kastiliens ist überstanden. Buddelnde Schweine unter den grünen, kurzstämmigen Eichen mit dem bizzaren Wuchs – das Bild ist Vorbote einer abwechslungsreicheren, bergigen Landschaft. Minifundien und Großgrundbesitz – letzterer hervorgegangen aus den Domänen der zu Reconquista-Zeiten mächtigen Ritterorden – leben nebeneinder fort. Die Extremadura, eine der ärmsten Regionen Europas, ist spärlich besiedelt, einige Landstriche sind völlig entvölkert.
Cáceres ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in der Extremadura. Eine moderne Stadt mit einem vollständig erhaltenen mittelalterlichen Kern, ummauert wie in alten Tagen, von 15 Türmen umgeben, mit Stadtpalästen und engen Gassen. Hier verschränken sich christliche und maurische Einflüsse sichtbar. Die Hufeisenbögen, die architektonischen Relikte aus der Zeit der maurischen Almohaden, überwiegen. Cáceres wurde abwechselnd von Mauren und Christen erobert, bis es Anfang des 13. Jahrhunderts endgültig von den Ritterorden besiegt wurde. Im Gegensatz zu den Mauren, die auf Ackerbau, Handel und Handwerk setzten, verließen sich die umherziehenden Hidalgos auf Expansion und Eroberung. Wasserleitungen verotteten, fruchtbares Ackerland wurde zu Weideland. Die Paläste der ritterlichen Adelsfamilien in Cáceres sind kleine Festungen inmitten der ummauerten Stadt, denn zwischen den aus Galicien und Asturien zugewanderten Familien herrschte nach der Vertreibung der Mauren ein beständiger Kleinkrieg um den Besitz.
Macht man von Cáceres einen Abstecher nach Trujillo, sieht man schon von weitem die Stadtmauern und Türme einer Bilderbuch-Ritterstadt. Auf dem höchsten Punkt der Stadt steht das Kastell. Ein maurischer Alcázar mit quadratischen Wehrtürmen und Plätzen und den Hufeisenbögen. Eine Standarte mit dem islamischen Halbmond ragt von den Dächern unterhalb der Burg von Trujillo. Ein historisches Relikt aus jüngster Zeit: Hier wurde der Film „Columbus“ mit Gérard Dépardieu gedreht. Die Stadttore von Trujillo mußten als Kulissen für die wesentlich heruntergekommenere Alhambra herhalten.
Zum Beispiel Conquista: Trujillo ist spanisches Mittelalter und spanische Provinz pur. Die verschlafene Plaza Mayor wird von einer martialischen Reiterfigur beherrscht: dem Peru-Eroberer Francisco Pizarro. Zur Zeit der Kolonisierung Amerikas machten sich vor allem „Extremenos“ auf der Suche nach El Dorado auf in die Neue Welt. Exakt 634 Bewohner des Provinzstädtchens Trujillo, unter ihnen Pizarro, brachen als Conquistadores auf und haben es zu was gebracht. Pizarro immerhin vom Schweinehirt zum berühmt- berüchtigten Eroberer. Zweiundzwanzig Orte in Lateinamerika sollen heute Trujillo heißen.
Nicht weit von Trujillo liegt das Bergstädtchen Guadeloupe. Ein ehemaliger maurischer Palast wurde hier zum Kloster umgebaut. Wegen seiner schwarzen Marienstatue ist das Kloster bis heute ein vielbesuchter Wallfahrtsort. Königin Isabel empfing hier Kolumbus, und dieser gab einer karibischen Insel den Namen des Ortes, in dem 1496 seine zwei ersten indianischen Mitbringsel getauft wurden.
Die spanische Region mit der kürzesten christlichen Tradition ist schließlich Andalusien. Die Reconquista begann in Andalusien erst im 13. Jahrhundert. Sevilla ist der Knotenpunkt spanischer Geschichte: Es war römische Siedlung, Zentrum des Maurenreichs, mittelalterliche Königsresidenz und – nach der Entdeckung Amerikas – Brückenkopf zur Neuen Welt. Die touristische Terra incognita endet hier. Und dann gibt es endlich Sonne und Flamenco satt, und bis zur verschandelten Küste ist es auch nicht weit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen