: Der Leichnam kam per Luftfracht Von Ralf Sotscheck
Onkel Lar ist nach dreißig Jahren wieder nach Dublin zurückgekehrt. In einer Holzkiste. Er ist in England an Altersschwäche gestorben. Lar war der Onkel meiner Nachbarin. Er stammte aus Longford, einer völlig unbedeutenden Grafschaft im mittleren Westen Irlands. Im Alter von 25 Jahren heiratete er Barbara, die von allen Bab genannt wurde. Die beiden bekamen drei Kinder, um die sich Bab kümmern mußte, weil das in Irland Tradition ist. Deshalb wunderte sie sich, als Lar ihr kurz nach der Geburt des dritten Kindes vorschlug, ein „überaus niedliches Waisenbaby“ zu adoptieren, das er im Krankenhaus entdeckt hatte. Als er dann nach Dublin ging, um Arbeit zu suchen und ein Haus für die Familie zu kaufen, stellte Bab Nachforschungen an. Sie fand heraus, daß Lar zur Vertragsunterzeichnung im Maklerbüro mit junger „Kollegin“ samt Kleinkind aufgetaucht war, obwohl er noch gar keinen Job – und folglich auch keine Kollegin – hatte.
Bab weihte ihre Schwägerin ein, die mit einem von Lars neun Brüdern unglücklich verheiratet war und daher die ganze Sippe für verkommen hielt. Die beiden schmiedeten einen Plan, in den sie die Verkäuferin des Dubliner Hauses mit einbezogen. Am nächsten Tag sollte nämlich die Schlüsselübergabe stattfinden. Bab und ihre Schwägerin versteckten sich im Hinterzimmer. Kaum waren Lar und seine „Kollegin“ eingetroffen, sperrte die Verkäuferin die beiden ins Wohnzimmer. Dann stürmten Bab und ihre Schwägerin ins Wohnzimmer und vermöbelten Lar samt „Kollegin“ nach Strich und Faden, bis den geschundenen Opfern die Flucht durch das Fenster gelang.
Wie sich später herausstellte, waren die beiden schnurstracks zum Dubliner Hafen gerannt, wo sie das nächste Schiff nach England nahmen. Da Lar jedoch den Kaufvertrag für das Haus unterschrieben hatte, mußte er zwanzig Jahre lang jeden Monat die Kaufrate an die Bank überweisen. Seine englische Adresse hielt er all die Jahre jedoch geheim.
Erst als er jetzt im Krankenhaus lag, meldete er sich bei seiner Familie in Dublin. Seine älteste Tochter, die inzwischen 42jährige Madeleine, fuhr nach London, wo ihr Vater seit seiner überstürzten Flucht gelebt hatte. Zu Madeleines Verblüffung saß ihre Doppelgängerin am Krankenbett – das „Waisenbaby“, das Lar damals adoptieren wollte. Er hatte mit der „Kollegin“ fünf weitere Kinder. Sein letzter Wunsch: Er wolle auf keinen Fall in England begraben werden.
Die „Kollegin“ erfüllte ihm den Wunsch umgehend: Der Leichnam war noch nicht ganz kalt, da befand er sich auch schon im Flugzeug nach Dublin – mitsamt der Rechnung für die Überführung. Bab bekam zwar einen Wutanfall, aber der nützte ihr nichts: Da sie die Leiche ja nicht im Haus herumliegen lassen konnte, mußte sie für das Begräbnis sorgen – wiederum auf eigene Kosten.
Vorgestern hat sich Madeleines Doppelgängerin aus London gemeldet. Sie will demnächst nach Dublin kommen, um das Grab des Vaters zu besuchen. Bab und ihre Schwägerin, beide um die achtzig Jahre alt, haben wieder einen Plan ausgeheckt: Sie wollen Lars Tochter auf dem Friedhof auflauern und sie in ein offenes Grab schubsen, um sich auf diesem Umweg an Lar und seiner verkommenen Sippe zu rächen.
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