piwik no script img

■ LesetipSpannende Flußfahrt durch die Wissenschaft

Eine Gruppe von Wissenschaftlern bricht zu einer außergewöhnlichen Bootsfahrt auf. Die Tour durch den Grand Canyon wird zu einer im doppelten Sinne spannenden Reise. Kaum eine andere Landschaft ist derart beeindruckend wie die tiefen Schluchten, die der Colorado River in Jahrtausenden gegraben hat. Der Neurophysiologe William Calvin liefert mit „Der Strom, der bergauf fließt“ aber sehr viel mehr als nur einen spannenden Reisebericht – es ist eben nicht dieser Inbegriff von Freiheit und Abenteuer, der bis zum nikotinschwangeren Werbeklischee stilisierte Schauplatz unzähliger Western, der den Wissenschaftler fasziniert. Während die Paläontologie auf der Suche nach dem ersten Menschen nur noch Afrika im Blick hat, schlägt er das amerikanische Kapitel der Erdgeschichte auf. „Man braucht gewöhnlich eine besondere Umgebung, um Wissenschaftler dahin zu bringen, daß sie frei von der Leber weg über Dinge sprechen, die noch ungesichert sind“, schildert Calvin Reiz und Besonderheit des Unternehmens. Die Fahrt den Colorado River hinunter gleicht tatsächlich einer Reise in die Geschichte des Lebens. Schlucht um Schlucht enthüllt der Fluß immer neue prähistorische Kapitel. Das Bilderbuch der Erdgeschichte versetzt die Forscher in nahezu kindliches Erstaunen. Farbig schillernde Felsformationen und die Zeugnisse längst verflossener Kulturen lösen Diskussionen und Spekulationen darüber aus, wie diese wundersame Natur entstanden ist. Vom Urknall bis zur Evolution des Menschen, von der Relativitätstheorie bis zum Rüstungswettlauf in biologischen Gemeinschaften reicht das außergewöhnliche Spektrum der Themen. Calvins Parallelkonstruktion ist so bestechend wie logisch: Einem Flußabschnitt ist jeweils ein Kapitel der Erdgeschichte zugeordnet. Die längeren Exkurse, die der Neurophysiologe in Molekularbiologie und Ökologie, Astronomie oder Paläontologie unternimmt, sind nicht zusammenhanglos gereiht. Der Reisebericht liefert Überleitung und Rahmen. Ganz nebenbei macht Calvin deutlich, daß auch die Forschung längst nicht alles beantworten kann – und daß viele Antworten vorläufig und unvollständig sind. Die Reisegefährten stellen Fragen, wie neugierige Kinder sie zu stellen pflegen. Anders aber als genervte Eltern, die die quengelnden Kleinen möglichst rasch loswerden wollen, suchen die Forscher vereint nach Antworten – und sie gestehen ein, wenn auch sie vor einem Rätsel stehen. Calvin gelingt es, trotz einer überbordenden Detailfülle unterhaltsam zu erzählen. Er bietet eine Schatzsammlung wissenschaftlicher Anekdoten und Randbemerkungen wie auch die Diskussion neuer Theorien auf erstaunlich aktuellem Niveau – ein ebenso spannender wie lehrreicher Ausflug. Schade nur, daß es acht Jahre dauerte, bis die deutsche Übersetzung erschienen ist. Andreas Sentker

William H. Calvin: „Der Strom, der bergauf fließt. Eine Reise durch die Evolution“. Hanser Verlag, 1994, 707 Seiten, 58 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen