■ Kommentar: Rot-Grün siegt in Hessen: Der Dauerbrenner
Nach all den überspannten Erwartungen, den ideologischen Überfrachtungen und Polarisierungen des Wahljahres 94 nun mit der ersten Landtagswahl des Jahres 95 quasi das genaue Gegenteil. Nach Wochen eines müden Wahlkampfs, der sich seine Themen krampfhaft suchen mußte, weil nichts sich so recht anbot, ein Ergebnis, das bundespolitisch wohl vor allem unter zwei Gesichtspunkten von Bedeutung ist.
Die Wähler haben die bestehende Regierungskoalition wiedergewählt und haben durchbrochen, was eine Tendenz zu werden drohte: daß Rot-Grün allenfalls eine Legislaturperiode übersteht, weil das Bündnis in dieser Zeit so viel innere Reibung produziert oder so viel Gegenkräfte mobilisiert, daß ein Scheitern zwangsläufig erscheint. Geradezu unspektakulär und unideologisch war die Regierungsarbeit. „Hessisch Rot-Grün“ hat wohl auch deshalb als Modell bundesweit für gesellschaftliche Akzeptanz und landesweit für gesellschaftliche Mehrheit gesorgt. Die Grünen sind numerisch zwar weiterhin der Juniorpartner, doch die Gewichtsverlagerung innerhalb der Koalition signalisiert, daß sie nicht mehr nur als Vertreter von Partialinteressen und als politische Repräsentanten eines gesellschaftlichen Lagers wahrgenommen werden. Sie gelten gleichermaßen als Stabilitätsfaktor. Dieser Tendenz in der kommenden Legislaturperiode Rechnung zu tragen bedeutet die Besetzung eines klassischen Ressorts. Dies wurde Bündnis 90/Den Grünen in früheren Zeiten mit Verweis auf ihre vermeintlich staatsabträgliche Haltung vorenthalten. Mit diesem überkommenen Klischee augenfällig zu brechen wäre jetzt an der Zeit. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben zudem den Nachweis angetreten, daß innerhalb eines rot-grünen Bündnisses die Gewinne der einen Seite nicht zwangsläufig zu Lasten der anderen gehen müssen. Rot-Grün ist nicht per se ein Nullsummenspiel. Die relativ geringen Verluste werden der SPD allerdings trotzdem Anlaß sein, über ihre eigenständige Profilierung stärker nachzudenken.
Das Wahlvolk hat sich gegen eine der Haupttendenzen der bundesrepublikanischen Politik der letzten Jahre gestemmt und der FDP den Wiedereinzug in den Landtag ermöglicht. Die Leiche klopft nochmals an den Sargdeckel. Für Klaus Kinkel ist das Abschneiden seiner Partei im einstigen liberalen Stammland eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich. Das Gesetz der Serie, das ihm den Stempel des ewigen Verlierers aufdrückte, scheint gebrochen – doch Sieger ist er damit noch lange nicht, auch wenn er sich für wenige Augenblicke so geriert. Zum Vorteil gereicht das Ergebnis – ja ist so etwas eigentlich gut zu nennen? – dem Landesvorsitzenden Wolfgang Gerhard. Und damit jenem Mann, dessen Name bereits häufig genannt wurde, als auf dem Parteitag in Gera für den angeschlagenen Kinkel hinter offener Bühne Nachfolger gehandelt wurden. Gerhard ist nun in einer günstigen Position, wenn auf dem FDP-Parteitag im Juni offiziell über den Posten des Vorsitzenden verhandelt wird. Dieter Rulff
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