Schon vor '33 Judenvertreibung

■ In Bremen waren Juden schon vor 1933 Opfer von Verfolgung und Vertreibung: Ein neues Buch über den antisemitischen Eifer des Bürgermeisters Johann Smidt/ Bremer Buchlese (5)

Lange vor den Schikanen, der Verfolgung und den Morden durch die Nazis hatten Bremer Politiker die hiesigen Juden aus der Stadt vertrieben - eine Politik, die besonders dem ehrenwerten Bürgermeister Smidt selig anzulasten ist. So stellt es sich im neuerschienenen Buch „Juden in Hastedt“ dar. Darin trägt die Autorin Anne Dünzelmann Quellentexte und Daten zur „Geschichte des jüdischen Lebens in Bremen seit 1782“ zusammen - klar, in sehr sachlichem Tonfall, und gerade dadurch sehr bewegend.

Die Zahlen: Am 16. Juli 1933 lebten in Bremen 1550 Juden, das waren 0,45 Prozent der Gesamtbevölkerung; Hamburg hatte mit 20.000 Juden oder 1,83 Prozent mehr als viermal so viele jüdische Einwohner. Bremen war damit die Stadt mit dem geringsten Anteil jüdischer Bevölkerung im „Reich“- bevor die Massenverfolgung überhaupt begann. Und alles dank der „zielbewußten Politik des Bürgermeisters Smidts“. So zumindest wird der damalige Mitarbeiter des Staatsarchivs (und spätere Leiter) Hermann Entholt zitiert. Der Brief stammt aus dem Jahr 1934, adressiert an Bürgermeister Markert.

Entholt hatte recht. Denn Johann Smidt, bremische Ikone, Retter der bremischen Eigenständigkeit nach den napoleonischen Kriegen und Gründer Bremerhavens, war als Bevollmächtigter beim Wiener Kongreß von 1814 vor allem darauf bedacht, die von Preußen und Östereich angestrebte Emanzipation der Juden im neuen Deutschen Bund nicht in die bremische Gesetzgebung übernehmen zu müssen. Er habe zu deutlich gesehen, schrieb er nach Hause, „wie klettenartig die Individuen dieser Nation zusammenhängen und welchen furchtbaren Staat im Staate sie bilden“. Der Senat setzte eine „Kommission wegen der Juden“ ein, und die stellte dann auch prompt fest, daß die Juden „eine übertriebene Neigung zu jeder Art von Gewinn, eine Liebe zu Wucher und zu betrügerischen Vorteilen haben“, daß sie „durch geringere Lebensansprüche dem Wettbewerb vorankommen“ und daß sie „durchgängig lasterhafter sind als wir“.

Dabei hatte es bis zu dem Jahre 1803 in Bremen „durchaus gar keine Juden“ gegeben, wie die Kommission mitteilte. Erst als das Königreich Hannover der Stadt Bremen seinen Gebietssplitter zurückgab, z.B. den Barkhof, das Dorf Hastedt und Vegesack, wurden vier „Schutzjuden“ auf bremischen Gebiet eingetragen: Sie durften in einem bestimmten Dorf wohnen, dort auch ein Haus erwerben und Handel treiben, über den allerdings das Krameramt mehr als eifersüchtig wachte.

In die Stadt selbst durften Juden allerdings nicht hinein und mußten den demütigenden Leibzoll und das Büchsengeld (für die sie begleitenden Soldaten) zahlen, wenn es ausnahmsweise einmal unumgänglich war.

So erklärt es sich, daß Juden sich außerhalb der Stadtgrenzen ansiedelten, etwa in dem Vorort Hastedt, wo nach 1820 fünf „konzessionierte“ Familien mit insgesamt 49 Personen registriert waren. Schikanen gab es reichlich: Dem jungen, mit glänzenden Examina versehenem Arzt Dr. Alexander verweigerte der Senat die Niederlassung; Juden durften weder als Burschen noch als Bedienstete noch „unter dem Vorwand einer Verwandtschaft“ ins Haus genommen werden – bei Strafe von 100 bis 300 Talern oder Gefängnis; Eheschließungen waren nur mit Genehmigung des zuständigen Beamten zulässig; fremde Juden konnten durch Heirat kein Niederlassungsrecht erwerben; Judenkinder mußten in christliche Schulen gehen, mit gnädiger Ausnahme des Religionsunterrichts; Erwerb von Immobilien war nicht gestattet. Die Lage besserte sich erst in den 30er Jahren des 19. Jahhrunderts; nach 1848 durften Juden sich auch in der Stadt niederlassen.

Das Bittere an der Lektüre von Anne Dünzelmanns Buch über die Juden in Hastedt seit 1782 ist weniger das schreckliche Ende ihrer Gemeinde (so furchtbar es ist, und alle sind sie mit Namen genannt), als vielmehr der unendlich lange Vorlauf, das völlige Unverständnis für das Andersein, das Fehlen jeglichen Mitgefühls in dieser scheinbar so honorigen Stadt. Dünzelmann stellt nur die Tatsachen dar, sachlich, ohne moralischen Zeigefinger; das Buch läßt einen nicht los. Und man erinnert sich: zum Beispiel an jenen Tag im November 1938, als die Juden aus der Synagoge auf dem Schulhof der damaligen Lüderitzschule zusammengetrieben wurden und wie der Klassenlehrer, 28 Jahre alt, HJ-Führer, jedem von ihnen links und rechts eine Ohrfeige gab. Otto Suhling

Anne E. Dünzelmann: Juden in Hastedt, Verlag Klaus Kellner, 189 S., 29.80 Mark

Buchpremiere: heute um 20 Uhr, Stadtbibliothek am Schüsselkorb, mit einer Einführung von Karla Müller-Tupath