Autonom und trotzdem ordentlich

■ Die „AntifaM“ versteht sich als legale Gruppe und kam gut mit der Polizei aus

Der Göttinger Oberbürgermeister ist da kategorisch: „Nein, für mich sind die hiesigen Demonstrationen gegen Rechtsradikale keineswegs von einer kriminellen Vereinigung organisiert worden“, sagt Rainer Kallmann (SPD). Schließlich ist das Stadtoberhaupt auch schon mal selbst mitgegangen, wenn die Mittwochsgruppe der Göttinger autonomen Antifaschisten – die „AntifaM“ – gegen Rechts aufrief.

„Mit ihren Demonstrationen hat ,AntifaM‘ die Bedrohung durch Rechtsradikale in Göttingen zum Thema gemacht“, meint auch der in Göttingen beheimatete Grünen-Bundesvorstandssprecher Jürgen Trittin, „sie wird wegen ihrer erfolgreichen politischen Arbeit verfolgt.“ Selbst dem niedersächsischen Innenminister Gerhard Glogowski sind die Ermittlungen der Celler Generalstaatsanwaltschaft und der Staatsschutzabteilung seines eigenen Landeskriminalamtes ein Dorn im Auge: „Ich war alles andere als erfreut, als ich von dem umfangreichen Verfahren gegen die Göttinger Szene erfahren habe“, sagt der SPD-Politiker noch heute.

Über vier Jahre lang hat eine Sonderkommission des niedersächsischen Landkriminalamtes auf Geheiß der Generalstaatsanwaltschaft Celle systematisch die Göttinger Szene ausgeforscht – gegen den Willen der Göttinger Polizei, der Stadt Göttingen und auch der damals noch rot-grünen Landesregierung. Die Polizisten haben protokolliert und als Straftat umetikettiert, was jeder halbwegs informierte Göttinger schon aus seiner bloßen Anschauung kannte: eine politische Arbeit, die die Autonomen selbst als ganz und gar legal ansahen:

– Drei Mark kostete eine Broschüre mit einer Erklärung der RAF zu Bad Kleinen im Göttinger Buchladen. Jetzt wird sie zum Anlaß für ein eigenes Strafverfahren nach dem Paragraphen 129a.

– Nach der gleichen Strafvorschrift werden zwei Mitglieder der autonomen Gruppe „Kunst und Kampf“ verfolgt, die eine Dokumentation über „Verbotene Kunst“, über Staatsschutzaktionen gegen politische Plakate erstellt hatten.

– Daß die „AntifaM“ auf insgesamt 12 Demonstrationen den schwarzen Block organisiert haben soll, macht sie in den Augen der Generalstaatsanwaltschaft Celle zur „kriminellen Vereinigung“. Schon die Präsenz eines schwarzen Blocks gilt dem Verfasser der Anklage, dem Oberstaatsanwalt Thomas Pleiderer, als „bedrohender Landfriedensbruch“. Auch diese Anklage gegen 17 Mitglieder der „AntifaM“, die sich regelmäßig am Mittwochabend im Göttinger Grünen Zentrum traf, interpretiert eine Tatsache neu, die den Göttingern längst zu einer Art folkloristischen Gewohnheit geworden war: Auf den von ihnen organisierten Demonstrationen, an denen in der Regel auch Grüne, Gewerkschafter und Sozialdemokraten teilnahmen, traten die Göttinger Autonomen meist in geschlossener Formation auf und kostümierten sich mit Helm oder Skimütze („Haßkappe“). Darin sieht der Staatsanwalt „einen Verstoß gegen das Uniformierungsverbot“.

– Die Autonomen meldeten ihre Bündnisdemonstrationen nicht offiziell beim Ordnungsamt an, sondern machten die geplante Route der Stadt und per Presse und Flugblatt bekannt. Daraus konstruiert die Staatsanwaltschaft eine „Nötigung“ der Polizei.

– Die jetzt angeklagten Demonstrationen verliefen in der Mehrzahl friedlich. Gab es dennoch Zwischenfälle, rechnet sie die Staatsanwaltschaft automatisch der „kriminellen Vereinigung“ „AntifaM“ zu.

Dabei war es gerade das Konzept der „AntifaM“, keine militanten, sondern Bündnisdemonstrationen gegen Rechts zu organisieren. „Wir waren immer eine legal angelegte Gruppe“, sagt Bernd Langer von der „AntifaM“, „wir haben Öffentlichkeitsarbeit gemacht, Bündnispolitik mit anderen Antifaschisten und haben dafür gesorgt, daß auf Demonstrationen aus dem schwarzen Block heraus nichts passiert.“ In ihren Schriften bezieht sich die „AntifaM“ auch auf antifaschistische Traditionen der Arbeiterbewegung. Sie ist keineswegs eine spontaneistische Gruppe.

Gerade deswegen konnte es über Jahre so etwas wie ein Arrangement zwischen der Göttinger Polizei und der autonomen Szene geben. Die Polizei hielt sich bei Demonstrationen zurück und verzichtete, wie es ja auch in anderen Städten üblich ist, gegenüber dem schwarzen Block auf eine Durchsetzung des Vermummungsverbotes. Die „AntifaM“ trug dieser Deeskalationsstrategie Rechnung, indem sie für Ordnung in den Reihen der Autonomen sorgte.

„In den achtziger Jahren hatten wir hier in Göttingen oft schlimme Dinge“, sagt Oberbürgermeister Rainer Kallmann mit Blick auf die damaligen Scherbendemos. Doch in den vergangenen Jahren habe sich die Situation durch das Deeskalationskonzept der Polizei beruhigt.

Der Oberbürgermeister, im Brotberuf Richter, hofft immer noch, daß dieses Konzept fortgeführt werden kann. „Die Anklage gegen die ,AntifaM‘ steht allerdings im Gegensatz zum Konzept der Deeskalation.“

Die „Göttinger Linie der Polizei“ hat die Beamten des LKA und der Celler Staatsanwaltschaft so sehr gestört, daß sie zeitweise sogar gegen ihre eigenen Göttinger Kollegen ermittelten: wegen „Strafvereitelung im Amt“. Diese später eingestellten Ermitllungen hat der niedersächsische Innenstaatssekretär, Klaus Henning Schapper, im Auge, wenn er sagt, er habe in diesem Verfahren noch weitaus Schlimmeres verhindert. Das Innenministerium, das die Göttinger Linie immer mittrug, fürchtet nun ein „niedersächsisches Sonderrecht“.

Mit einem Urteil des Oberlandesgerichts Celle gegen die „AntifaM“ wäre Niedersachsen tatsächlich das einzige Bundesland, in dem ein schwarzer Block schon eine kriminelle Vereinigung nach Paragraph 129 darstellt. Die Polizei hätte dann in der Frage des Vermummungsverbots praktisch keinen Handlungsspielraum mehr.